Felix Klein: "Ich stelle fest, dass die Selbstregulierung im Kunst- und Kulturbetrieb nicht funktioniert"

Typ: Interview , Datum: 01.03.2024

Im Interview mit Jens Kleindienst, Redakteur in der VRM-Zentralredaktion (Allgemeine Zeitung Mainz, Darmstädter Echo, Wiesbadener Kurier, Wetzlarer Neue Zeitung), sprach Felix Klein über die israelfeindlichen Äußerungen bei der Abschlussgala der Berlinale und darüber, welche Konsequenzen draus zu ziehen sind.

Darmstädter Echo

Herr Klein, nach dem Berlinale-Skandal: Müssen wir über den Begriff Kunstfreiheit neu diskutieren?

Kunstfreiheit ist, ebenso sie die Meinungsfreiheit, ein hohes Gut. Sie findet ihre Grenzen, wenn Straftaten wie Volksverhetzung oder Beleidigung im Spiel sind. Und wenn sie mit den Grundrechten anderer Menschen kollidiert, nämlich von Jüdinnen und Juden in Deutschland, wenn es um Antisemitismus geht. Wenn Kunstwerke Antisemitismus ausdrücken, dann sollten sie zumindest nicht mehr öffentlich gefördert werden.

Hat der Kulturbetrieb in Deutschland ein Antisemitismusproblem?

Seit den Vorfällen bei der Documenta 2022 gibt es eine starke Zunahme von antisemitischen Vorfällen in Kultur- und Bildungseinrichtungen, das belegen die Zahlen der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus. Wir haben hier eindeutig ein strukturelles Problem, insbesondere bei Antisemitismus, der sich auf Israel bezieht. Das ist sehr besorgniserregend.

Woran liegt das?

Künstler haben in besonderem Maße die Tendenz, sich auf die Seite der vermeintlich Schwächeren zu schlagen. Das ist im israelisch-palästinensischen Konflikt beim ersten Hinsehen die palästinensische Seite. Das stimmt so aber nicht. Israel ist in der Region umgeben ist von feindlich gesonnen Nationen und Terrororganisationen. Diese grundsätzliche Bedrohung Israels wird im Kunst- und Kulturbetrieb und gerade in der Filmbranche leider oftmals ausgeblendet. Das haben die Ereignisse auf der Berlinale gezeigt. Häufig kommen dann noch althergebrachte antisemitische Narrative hinzu, die auf Israel bezogen werden.

Wie definieren Sie die Grenze zwischen harter Israel-Kritik und Antisemitismus?

Die Grenze ist dann überschritten, wenn Israel delegitimiert und dämonisiert wird, also beispielsweise als Apartheid-Staat bezeichnet wird oder Vergleiche zu den Naziverbrechen gezogen werden, also der Gazastreifen als Konzentrationslager bezeichnet wird und die israelische Armee als Täterarmee. Sie ist auch überschritten, wenn doppelte Standards angelegt werden beim Vergleich zwischen israelischem Regierungshandeln und dem Handeln anderer Nationen. Die Grenze ist drittens überschritten bei Äußerungen, die Israel als jüdisches Kollektiv delegitimieren, indem sie dem Staat das Existenzrecht absprechen.

Der israelische Filmemacher Yuval Abraham hat mit dem Palästinenser Basel Adra den Film „No Other Land“ über die Siedlungspolitik auf der Westbank gemacht. Bei der Berlinale-Preisverleihung hat er gesagt: „In zwei Tagen werden wir in ein Land zurückkehren, wo wir nicht gleich sind. Ich darf mich in dem Land frei bewegen, Basel ist wie Millionen Palästinenser eingeschlossen in der West-Bank.“ Abraham hat das als „Apartheid zwischen uns“ benannt – ist das Antisemitismus?

Diese Äußerung bedient antisemitische Narrative. Zum einen hinkt der historische Vergleich. Der Begriff Apartheid kommt aus der südafrikanischen Politik. Er steht für einen extremen Rassismus, der nichts mit den Verhältnissen in Israel zu tun hat. Zur Veranschaulichung: Als Palästinenser oder Araber kann man in Israel in ein Restaurant gehen und wird dort von jüdischem Personal bedient, das war im Apartheidstaat Südafrika für einen Schwarzen undenkbar. Mit dem Begriff der Apartheid, die ja eindeutig ein schreckliches Verbrechen war, soll Israel, entgegen den Fakten, dämonisiert und damit die Existenz des einzigen Staates weltweit mit jüdischer Bevölkerungsmehrheit delegitimiert werden.

Abraham kritisiert vor allem die Behandlung der Palästinenser im besetzten Westjordanland.

Auch hier passt der Begriff Apartheid nicht.  Ein Großteil der palästinensischen Bevölkerung lebt unter Selbstverwaltung. Dass z.B. separate Straßen für Israelis und Palästinenser im Westjordanland bestehen, dazu hat Israel völkerrechtlich als Besatzungsmacht das Recht.

Spielt es bei Ihrer Bewertung keine Rolle, dass die Kritik von einem Israeli geäußert wird?

Nein. So schräg es klingt, aber Antisemitismus kann auch von Jüdinnen und Juden verbreitet werden.

International wird die Politik Israels deutlich kritischer diskutiert. Ziehen wir die Diskursgrenzen in Deutschland zu eng?

Antisemitismus hat in Deutschland immer eine besondere Bedeutung, weil er vor dem Hintergrund des Holocaust geäußert wird. Deshalb sind die Grenzen dessen, was gesagt werden kann, hierzulande enger als anderswo.

Können Sie das genauer erklären?

Wenn die israelische Armee als Täterarmee bezeichnet wird, dann hat das hier automatisch schuldentlastende Wirkung. Die Gräueltaten der Nazis werden relativiert, weil die Nachkommen der Opfer ja nach dieser Argumentation auch nicht besser sind als damals die Wehrmachtsoldaten. Oder allgemeiner: Die Israelis behandeln die Palästinenser so, wie die Juden von den Nazis behandelt wurden. Das Gleiche gilt, wenn der Gazastreifen als Konzentrationslager bezeichnet wird.

Wie viel ungerechte, polemische Kritik an Israel und seiner Politik muss man in einer Demokratie aushalten?

Ziemlich viel, und das tun wir ja auch. In den Medien wird jeden Tag Kritik geäußert. Auch aus meiner Sicht ist die israelische Siedlungspolitik völkerrechtswidrig und zu kritisieren. Außerdem ist Antisemitismus per se nicht strafbar. Man kann in Deutschland auf Israel bezogenen Antisemitismus verbreiten. Wir sollten dann aber widersprechen. Im Kunst- und Kulturbereich ist man einen solchen Widerspruch aber nicht gewohnt. Viele fühlen sich dann als Opfer und behaupten, ihre Meinungs- und Kunstfreiheit werde eingeschränkt. Das ist eine Verdrehung der Tatsachen, eine klassische Täter-Opfer-Umkehr.

Wie sollen wir künftig mit politischen Äußerungen von Künstlern umgehen? Sollte man sie bei einer Preisverleihung untersagen?

Nein! Man kann den Menschen nicht das Wort verbieten oder sie vorher zensieren. Man sollte die Künstler aber auf den besonderen politischen Kontext hinweisen, in dem sie sprechen. In einem arabischen Land würde man bei einer Preisverleihung auch keine besonders freizügigen Worte wählen. Wenn es wie auf der Berlinale dann zu nicht hinnehmbaren Äußerungen kommt, obliegt es den Veranstaltern, das Wort zu ergreifen und das Gesagte einzuordnen.

Es gibt Forderungen, von Kulturschaffenden eine Art Bekenntnis gegen Antisemitismus zu verlangen. Ein erster Versuch dieser Art ist in Berlin wieder zurückgenommen worden. Was halten Sie von solchen Ideen?

Ich stelle fest, dass die Selbstregulierung der Branche nicht funktioniert. Deshalb glaube ich, dass wir mit politischen Entscheidungen gegen Antisemitismus in der Kultur vorgehen müssen. Die Finanzierung mit öffentlichen Geldern ist dabei ein wichtiger Hebel. Eine Klausel, wie sie der Berliner Kultursenator Joe Chialo vorgeschlagen hat, ist aber wohl rechtlich problematisch.

Was schlagen Sie vor?

Ein geeignetes Mittel wäre es, die Gremien, die über Programme und die Einladung von Künstler entscheiden, mit Personen zu besetzen, die gegenüber Antisemitismus sensibel sind. Wir können Künstlerinnen und Künstlern nicht vorschreiben, welche Kunst sie schaffen. Doch wir sollten genauer darauf achten, welche Leute eingeladen werden und was hier mit staatlicher Förderung gezeigt werden soll.

Antisemitismus, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit, Hass und Hetze nehmen zu: Wie kommen wir wieder miteinander ins Gespräch?

Das ist ein ganz wichtiger Punkt: Wir müssen in der aufgeheizten Debatte die Emotionen wieder zurückfahren. Bei den aktuellen Kontroversen darf nicht untergehen, dass es einen sehr breiten Konsens gibt, dass Antisemitismus bekämpft werden muss. Es existieren unterschiedliche Meinungen, wie man das macht. Darüber müssen wir respektvoll miteinander reden.