Felix Klein: "Was wir hier sehen, zeigt, dass wir Defizite in unserer Integrationspolitik haben"

Typ: Interview , Datum: 13.05.2024

Felix Klein sprach im Rahmen seines Redaktionsbesuches beim Südkurier mit Stefan Lutz und Angelika Wohlfrom über Defizite in der Integrationspolitik, über die große Bedeutung, die Zweistaatenlösung zu diskutieren und über seinen Vorschlag, einen bundesweiten Aktionstag zu Antisemitismus an den Schulen durchzuführen. Das Interview wurde am 27. April im Südkurier veröffentlicht.

Südkurier

Herr Klein, können Juden in Deutschland sicher leben?

Ich stelle fest, dass die Situation so dramatisch ist wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Die Zahl antisemitischer Straftaten ist explodiert. 2022 waren es etwa 2600, für 2023 müssen wir wohl mindestens mit einer Verdoppelung rechnen. Die Kriminalitätsstatistik wird im Mai veröffentlicht. Hinzu kommt ein ein sehr starker Anstieg judenfeindlicher Übergriffe, die, auch wenn sie noch nicht strafrechtlich zu werten sind - die Zahlen sind mit 300 Prozent Steigerung dramatisch –. sich massiv auf das Lebensgefühl und die Sicherheits von Jüdinnen und Juden in Deutschland auswirken.

Was spiegeln Ihnen Juden in Deutschland wider?

Viele machen sich unsichtbar, gehen eben nicht mehr als Juden erkennbar durch die Straßen – also ohne Kippa, oder wenn, dann setzen sich ein Käppi drüber, andere tragen eine Davidsternkette nicht mehr offen. Menschen mit jüdisch klingenden Namen bestellen bei Lieferdiensten ihr Essen unter Pseudonym, um nicht als jüdisch erkennbar zu sein. Viele überlegen sich, ob sie noch in die Synagoge gehen sollen. Ein Mitarbeiter von mir hatte letzte Woche ein Treffen mit jüdischen Jugendlichen. 17 von den 18 haben berichtet, sie hätten antisemitische Anfeindungen in ihrem Umfeld erlebt.

Ist die Zunahme antisemitischer Straftaten eine unmittelbare Folge der Zuwanderung?

Nach meiner Einschätzung ist das nicht auf die Zuwanderung zurückzuführen, die wir seit 2015 haben. Die Menschen, die jetzt antisemitische Straftaten begehen – vor allem sind es Volksverhetzungen, Schmierereien, Beleidigungen –, sind in der Mehrzahl jene, die schon seit langem in Deutschland leben, also die zweite, dritte Generation. Wenn Sie in Berlin auf so manche sogenannte pro palästinensische Demonstration gehen, werden Sie feststellen: Die überwiegende Zahl der Teilnehmenden kann perfekt deutsch. Wir sehen hier die Defizite unserer Integrationspolitik, die sich sehr stark darauf konzentriert hat, dass die Menschen die deutsche Sprache lernen, was ja auch gut und richtig ist, aber offenbar nicht genug. Wenn wir sehen, dass in Berlin und anderen Städten die entsetzlichen Massaker und der Tod von Juden am 7. Oktober mit Süßigkeiten und mit Freudentänzen gefeiert wurde, zeigt das, dass wir ein Integrationsproblem haben.

Wenn es sich um die zweite, dritte Generation handelt, ist das Rennen ja gelaufen. Da kann man ja kaum mehr mit Verbesserungen rechnen.

Ich glaube schon, dass es sich bessern kann. Wir müssen stärker einfordern, auch proaktiv handeln und ganz klar machen, dass das von der großen Mehrheit in der Bevölkerung in Deutschland nicht geduldet wird. Dabei dürfen aber nicht den Fehler machen, die fünf Millionen Muslime, die in Deutschland leben, unter Generalverdacht zu stellen. Die Mehrzahl der in Deutschland lebenden Muslime ist nicht jugendfeindlich eingestellt. Wenn die Judenfeindschaft auch laut einer neuen Studie stärker ausgeprägt ist bei Muslimen, die häufig in die Moschee gehen. Sie sind anfälliger für antisemitische Verhaltensmuster als säkulare Muslime. Deswegen müssen wir auch die Moscheevereinigungen, die muslimischen Organisationen insgesamt, aber auch die landsmannschaftlich organisierten Muslime in die Pflicht nehmen.

Welche Rolle spielen Rechtsextreme? Und von welcher Gruppe geht die größere Gefahr aus – von arabischer Seite oder von rechter?

Jede Form von Antisemitismus ist gefährlich, wir sollten keine Hierarchisierung vornehmen. Aber was Gewalttaten angeht, sind es immer noch die Rechtsextremen, die auffälliger sind. Zuletzt haben wir allerdings wirklich schreckliche Gewalttaten von arabischstämmigen Tätern gesehen. Das prominenteste Beispiel war der Angriff eines arabischstämmigen jungen Mannes auf seinen jüdischen Kommilitonen in Berlin, den er krankenhausreif geschlagen hat. Im Alltag ist das Lebensgefühl der jüdischen Bevölkerung in Deutschland mehr von den islamistischen Attacken geprägt als von den rechtsextremen.

Wird das irgendwann besser? Viele Taten bleiben ja auch folgenlos.

Ich bin sehr zuversichtlich. Bei den jüngsten israelfeindlichen Demonstrationen haben die Behörden sehr gut agiert. Wenn antisemitische Straftaten drohten begangen zu werden, haben Behörden dieses Demonstrationsgeschehen verboten und damit Erfolg gehabt. Polizei und Justiz können besser als früher damit umgehen. Zum Beispiel wird der Slogan "From the River to the Sea" als Aufruf zur Vernichtung des Staates Israel angesehen und konsequent bestraft. Die Sensibilität für Antisemitismus ist größer geworden. Mehr Aufholbedarf sehe ich bei der Prävention, also beim Verhindern von antisemitischen Straftaten. Hierfür muss zum Beispiel die Lehramtsausbildung systematisch verbessert werden. Wir müssen den Umgang mit Rassismus und Antisemitismus zum verpflichtenden Bestandteil der Lehramtsausbildung in Deutschland machen, damit sich Lehrerinnen und Lehrer nicht eine Art Hilflosigkeit in solchen Situationen erleben. An der Universität Würzburg werden jetzt als Pilotversuch genau solche Module für Lehramtsstudierende angeboten. Die werden überlaufen, das Interesse ist riesig. Ich freue mich, dass zwei Unis in Niedersachsen das Konzept jetzt übernehmen wollen. Und ich würde es natürlich sehr begrüßen, wenn das hier in Baden-Württemberg auch gemacht würde.

Aber das müsste doch verpflichtend werden. Offenbar gibt es sehr viel Unsicherheit mit dem Thema an den Schulen.

Ich habe kürzlich vorgeschlagen, einen bundesweiten Aktionstag zum Antisemitismus an den Schulen durchzuführen, noch in diesem Schuljahr. Die Bundeszentrale für politische Bildung könnte unterstützen, die Amadeu-Antonio-Stiftung und andere auch. Aber es müssen auch 16 Kultusminister zustimmen. Ich würde mir auch wünschen, dass es nicht nur ein Aktionstag ist, sondern dass daraus etwas Dauerhaftes wird. Was ich aus der Erfahrung von fast sechs Jahren Amtszeit sagen kann: Wir müssen uns strukturell aufstellen gegen Antisemitismus, losgelöst von den Einzelfällen. Wir brauchen Strukturen, wie die Antisemitismusbeauftragten bei den Staatsanwaltschaften. Es ist einfach gut, Experten zu haben in den Behörden, die andere dabei unterstützen zu erkennen, wo Antisemitismus anfängt, wo es sich lohnt zu ermitteln. So ähnlich müssen wir das auch an den Universitäten haben. Dort brauchen wir auch Ansprechpersonen für jüdische Studierende, die sich teilweise gar nicht mehr in die Seminare trauen. Dafür braucht es keinen Riesen-Verwaltungsapparat.

Gerade wird darüber diskutiert, ob man an den Schulen früher über die NS-Zeit reden müsste, oder ob Besuche von KZ-Gedenkstätten verpflichtend sein sollten, um Antisemitismus zu begegnen. Aber Ihnen kommt es weniger auf die deutsche Geschichte an, oder?

Ich meine, Erinnerungskultur ist ein ganz wichtiger Schlüssel. Aber viel zu oft wird der Antisemitismus als ein rein historisches Phänomen wahrgenommen, das mit 1945 sein Ende gefunden hätte. Und dem ist ja nicht so.

Dringen Sie mit Ihren Forderungen durch?

2021 haben Bund, Länder, die Kommission der Antisemitismusbeauftragten, der Zentralrat der Juden und die Kultusministerkonferenz eine Erklärung vereinbart. Dort steht auf elf Seiten alles, was man tun muss in der Lehramtsausbildung, um alle im Umgang mit Antisemitismus fitzumachen. Das Papier hat aber nur Empfehlungscharakter. Ich bin im Gespräch mit den Kultusministern, aber ich kann als Bundesbeauftragter natürlich keine Weisungen geben. Ich glaube schon, dass das im Curriculum verpflichtend sein muss. Genauso wie Medienkompetenz ein Schulfach werden sollte. Kinder sind nun mal im Internet unterwegs und viele sind anfällig für Antisemitismus, für Verschwörungsmythen, für ganz schwierige Narrative, die ungeprüft übernommen werden.

Werden Sie in Ihrer Funktion angefeindet?

Ich bekomme die eine oder andere Hass-Mail. Wenn es strafrechtlich relevant ist, dann leite ich das auch weiter an die Polizei. Das kommt ausnahmslos von rechts, nicht von Muslimen.

Wie blicken Sie politisch auf Israel? In der Zeit seit dem 7. Oktober.

Um mal mit dem Positiven anzufangen: Es wird jetzt allen klar, dass man über die Zweistaatenlösung reden muss. Man sieht, es muss eine Verständigung her. Es war ein großer Fehler, das aus der politischen Debatte auszuklammern, auch seitens der israelischen Regierung. Die Zweistaatenlösung scheint jetzt in weiter Ferne, aber etwas Besseres haben wir im Moment nicht. Das zu verfolgen ist auch im israelischen Interesse, weil nur dann das Besatzungsregime im Westjordanland überhaupt gerechtfertigt werden kann. Denn eine Besatzung auf Dauer mit dem Ziel der Annexion ist völkerrechtswidrig – das weiß man in Israel auch genau. Was im Gazastreifen passiert, ist natürlich grauenvoll. Es zerreißt einem das Herz, wie viele Menschen schuldlos zu Tode kommen. Was zu kurz kommt, ist die Verantwortlichkeit der Hamas. Wie Palästinenser unter der Hamas-Regierung leiden, wird zu wenig thematisiert. Den Hauptverantwortlichen der Hamas sind Menschenleben völlig egal. Ich finde aber auch, dass Teile der israelischen Regierung eine völlig unakzeptable Rhetorik an den Tag legen.

Wir bewerten Sie den jüngsten Konflikt zwischen Annalena Baerbock und Benjamin Netanjahu?

Ich war ja nicht dabei, aber ich finde, dass man sich auch unter Freunden ganz klar die Meinung sagen können muss. Deutschland ist wirklich ein enger, treuer Freund. Da sollte das Wort der Bundesaußenministerin auch Gewicht haben. Ich höre immer wieder, dass Projekte der deutschen Entwicklungshilfe im Gazastreifen teilweise zerstört werden von der israelischen Armee, obwohl sie keine militärische Relevanz haben. Auch mit Blick auf den deutschen Steuerzahler ist es richtig, so etwas anzusprechen.

Es gibt Forderungen, keine Waffen mehr zu liefern an Israel.

Das wäre der falsche Weg. Schon weil wir uns selber schaden würden. Wir kaufen schließlich den Raketen-Schutzschild, der in Israel entwickelt wurde. Aber das schließt natürlich nicht aus, dass man unter Freunden durchaus Besorgnis anspricht. Die Staatsraison bedeutet, dass wir fest an der Seite Israels stehen. Wir werden dafür sogar vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verklagt - in einer völlig kruden, innenpolitisch motivierten Klage von Nicaragua.

Ihre Tochter studierte ja in Konstanz und war Gegenstand unserer Berichterstattung, nachdem sie aus ihrem Studentenzimmer in der Altstadt die Flagge Israels aus dem Fenster gehängt hat und deshalb Ärger bekam. Was ging Ihnen da durch den Kopf?

Ich war erst mal schockiert. Wie kann es sein, dass eine Solidarität, wie sie vor zwei Jahren vielfach für die Ukraine gezeigt wurde, bei Israel als Bedrohung für das Geschäft im Erdgeschoss angesehen wird? Das hat mich betroffen gemacht. Für mich ist das auch ein Zeichen dafür, dass es Israelfeindschaft in der Mitte der Gesellschaft gibt. Hierüber müssen wir stärker als bisher ins Gespräch kommen, wenn wir die Problematik im Nahen Osten besser verstehen wollen.