Felix Klein: Mehrheit der Muslime in Deutschland ist nicht antisemitisch eingestellt

Typ: Interview , Datum: 03.11.2023

Felix Klein sprach im Interview mit Volker Petersen von ntv.de darüber, dass Antisemitismus in Deutschland nach den Terrorangriffen der Hamas auf Israel und die israelische Bevölkerung zugenommen hat und wie verbreitet Judenhass unter Muslimen ist.

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ntv.de: Herr Klein, wie erschrocken waren Sie nach dem 7. Oktober von den Bildern von feiernden Menschen auf deutschen Straßen?

 

Felix Klein: Diese Bilder haben mich schockiert. Wenn Menschen bestialisch ermordet werden, erwartet man Empathie und Mitgefühl als Reaktion. Doch der Hass war größer.

 

Wie erklären Sie sich diesen Antisemitismus von Muslimen in Deutschland?

 

Wir haben in Deutschland offenbar zugelassen, dass sich in manchen Städten Parallelgesellschaften gebildet haben, in denen fanatischer Hass auf Israel und Juden an der Tagesordnung ist. Das Ergebnis sehen wir jetzt. Dass sich das hier so aufgeheizt hat, zeigt, dass unsere Integrationspolitik besser werden muss.

 

Terrorangriffen der Hamas auf Israel und die israelische BevölkerungBei der Berichterstattung drängt sich manchmal der Eindruck auf: Eigentlich betrifft es alle.

 

Die große Mehrheit der Muslime in Deutschland ist nicht antisemitisch eingestellt. Allerdings zeigte eine Studie im Auftrag des American Jewish Committee vor zwei Jahren , dass Antisemitismus häufiger unter den Muslimen verbreitet ist, die regelmäßig in die Moschee gehen.

 

Welche Rolle spielen die Imame dabei?

 

Darüber wissen wir viel zu wenig. Ich beobachte aber, dass manche Imame im Gespräch mit offiziellen Stellen das sagen, was diese hören wollen, und sich dann ganz anders äußern, wenn sie in der Moschee predigen. Das ist ein Problem. Auch vom türkisch finanzierten Moscheenverband Ditib habe ich nach dem Hamas-Massaker in Israel nicht viel gehört. Wir müssen sie mehr in die Pflicht nehmen.

 

Antisemitismus ist kein muslimischer Import, sondern ihn gibt es seit Jahrhunderten in Deutschland. Warum trifft es immer wieder die Juden?

 

Es ist in der Tat der älteste Hass, den wir in Europa kennen. Er ist erklärbar durch die jahrhundertealte Tradition der Kirchen. Sie grenzten sich vom Judentum als Ursprungsreligion ab und machten die Juden verächtlich. Das betraf sowohl die katholische als auch die evangelische Kirche. Martin Luther hat als Verfasser judenfeindlicher Schriften den Grundstein für die Dominanz des Antisemitismus in der deutschen und europäischen Kulturgeschichte gelegt. Dahinter steckt ein einfacher Mechanismus: Gerade in Krisenzeiten suchen Menschen nach einem Schuldigen. Man konnte immer mit dem Finger auf die Juden zeigen, weil sie vermeintlich anders waren.

 

Neben dem religiösen Antisemitismus gibt es weitere Formen, etwa von den Nazis und Linken. Wir benutzen aber immer den gleichen Begriff, obwohl das ganz unterschiedliche Gruppen sind. Wie passt das zusammen?

 

Antisemitismus ist ohnehin ein schwieriger Begriff, weil er eine Wissenschaftlichkeit suggeriert, die es gar nicht gibt. Von Judenhass zu sprechen, wäre ehrlicher. Der Judenhass hat verschiedene Ausprägungen, aber eines haben alle gemeinsam: Juden werden gehasst, weil sie Juden sind. Die Grundlage bilden immer Verschwörungsmythen. Den Juden wird eine Übermacht auf die Geschicke der Weltpolitik zugeschrieben. Das ist ein einfaches, aber falsches Erklärungsmuster für komplexe Fragen. Juden werden für alle Übel der Welt verantwortlich gemacht. Gemeinsam haben alle Formen des Judenhasses auch, dass eine Koexistenz nicht möglich ist, anders als beim Rassismus. Ein Rassist kann sehr gut mit seinem Opfer leben, solange er es dominiert und unterdrückt. Das ist beim Judenhass nicht möglich.

 

Warum nicht?

 

Weil die vermeintliche jüdische Übermacht als existenzbedrohend wahrgenommen wird. Der Antisemit sieht sich in einer imaginären Verteidigungshaltung. Deshalb erscheint die Vernichtung als die einzig konsequente Antwort. So stand es immer schon in der Hamas-Gründungsakte: Israel muss vernichtet und Juden weltweit ermordet werden. Diese Vernichtungsideologie hatten die Nazis in anderer Form auch. Bei denen war sie außerdem rassisch konnotiert.

 

Und der Antisemitismus von links?

 

Der kommt subtiler daher. Er stellt eher einen angeblichen Zusammenhang von Juden und Kapital in den Mittelpunkt. Juden werden als Strippenzieher des Finanzwesens dargestellt. So werden Jüdinnen und Juden als Verursacher der Übel des Kapitalismus dargestellt.

Aber zugleich von rechts auch für die Übel des Kommunismus.

 

Richtig. Darin zeigt sich die ganze Absurdität des Antisemitismus.

 

Manche Linke stellen Israel als neokoloniale Macht dar, die den Palästinensern das Land weggenommen habe und sie unterdrücke. Demnach geht es nicht gegen Juden, sondern um eine Art antikolonialen Freiheitskampf. Ist das so falsch?

 

Diese postkoloniale Theorie ist aus meiner Sicht unzutreffend. Völkerrechtlich ist an der Gründung des Staates Israel nichts zu beanstanden. Die Generalversammlung der UNO stimmte ihr 1948 zu. Die palästinensische Bevölkerung bekam keine Möglichkeit, darüber abzustimmen, weil gleich danach mehrere arabische Staaten Israel angriffen. Die postkoloniale Theorie ist aber aus einem weiteren Grund bei uns in Deutschland und Europa problematisch.

 

Welcher wäre das?

 

Israel wurde zu einem Zufluchtsort für verfolgte Juden aus der ganzen Welt. Gerade im Holocaust wurde offensichtlich, dass die Juden einen eigenen Staat brauchen. Das kollidiert massiv mit der postkolonialen Theorie.

 

Wäre es vorstellbar, dass ein Palästinenser sagt: „Ich finde es falsch, dass Israel so gegründet wurde, ich habe aber nichts gegen Juden“? Oder ist der Judenhass mit dem Aberkennen des Existenzrechts Israels untrennbar verbunden?

 

Das ist nicht zu trennen. Das wäre ganz klar Israel-bezogener Antisemitismus. Das Existenzrecht Israels infrage zu stellen, ist antisemitisch. Das ist Konsens in der seriösen Forschung. In Projekten an Schulen, die ich begleite, wird arabischstämmigen Schülerinnen und Schülern oft diese Frage gestellt: Wenn es Israel nicht mehr gäbe, würdet ihr dann trotzdem Juden hassen? Die Antwort lautet zu 99 Prozent „Ja“.

 

Von welcher Gruppe in Deutschland geht für jüdisches Leben die größte Gefahr aus?

 

Es gibt keinen harmlosen Antisemitismus und er ist in jeder Form eine Gefahr für unsere Demokratie. Wer heute Juden angreift, attackiert morgen Sinti und Roma oder Homosexuelle. Jede gesellschaftliche Gruppe kann hier Opfer werden. Wenn Sie sich die Kriminalstatistik ansehen, ist es der rechtsextreme Antisemitismus, der die größte Gefahr darstellt. Da geht es um Volksverhetzungen, Beleidigungen und auch Gewalttaten. Der Antisemitismus von Muslimen zeigt sich oft unterhalb der Strafbarkeitsgrenze, zum Beispiel in Pöbeleien gegen Kippaträger. Das schränkt die Lebensqualität der jüdischen Gemeinschaften in Deutschland sehr stark ein. Stärker auch als manche Straftaten von Neonazis. Denn Dinge wie Holocaustleugnung oder Volksverhetzung finden meist im Internet statt und werden oft von den Betroffenen nicht unmittelbar wahrgenommen.

 

Wenn man israelische Politik kritisiert, hat man schnell das Gefühl, auf ganz dünnem Eis zu wandeln und sich leicht den Vorwurf einzuhandeln, ein Antisemit zu sein. Wo hört Kritik an der Regierung Israels auf und wo fängt Antisemitismus an?

 

Kritik an der israelischen Regierungspolitik ist nicht per se antisemitisch und auch wir Deutsche können diese üben - so wie es Israelis ja auch selbst tun. Die Siedlungspolitik im Westjordanland beispielsweise verstößt gegen das Völkerrecht. Das zu kritisieren, ist absolut möglich, ohne sich den Vorwurf des Antisemitismus gefallen lassen zu müssen. Antisemitisch wird die Kritik dann, wenn das Existenzrecht Israels in Zweifel gezogen wird. Oder wenn das israelische Vorgehen mit den Gräueltaten der Nazis verglichen wird.

Haben Sie ein Beispiel?

 

Kritik am israelischen Regierungshandeln ist absolut legitim. Wer die völkerrechtswidrige Siedlungspolitik oder den Verlauf der Schutzmauer zwischen dem Westjordanland und Israel kritisiert, ist nicht antisemitisch. Aber wer dem Staat Israel das Existenzrecht abspricht und so einen Spruch wie „From the river to the sea, Palestine will be free“ loslässt, der äußert sich antisemitisch. Wenn das israelische Regierungshandeln mit den Naziverbrechen gleichgesetzt wird und z. Bsp. der Gazastreifen als großes Konzentrationslager bezeichnet wird, dann ist das auch antisemitisch, weil es Naziverbrechen relativiert und Täter und Opfer umkehrt.

 

 

Ein häufiger Vorwurf Israels ist, dass es mit anderen, strengeren Maßstäben als andere Länder in der Welt und in der Region gemessen wird. Aber wir betrachten Israel ja auch als westliche Demokratie. Muss man da nicht höhere Maßstäbe haben als an irgendeine Diktatur?

 

So ist es. Man muss an das israelische Regierungshandeln Maßstäbe anlegen, wie man sie an jede andere Demokratie auch anlegen würde. Dafür gibt es einfachen Test: Wenn ich Israel beurteilen will, kann ich mich fragen: Würde ich das Gleiche beispielsweise über Italien sagen? Oft werden aber an das israelische Regierungshandeln Maßstäbe angelegt wie an keine andere Demokratie.

 

Inwiefern?

 

Vor einigen Jahren gab es in Tel Aviv einen Terroranschlag und Netanjahu sagte danach: "Wir müssen Maßnahmen defensiver und offensiver Art treffen." Auch seriöse Presseorgane haben daraus gemacht: Israel will Vergeltung und Rache üben. So etwas würde man einer westlichen Regierung nie unterstellen, sei es Italien oder Deutschland. Nach dem Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin hätte niemand gesagt: Deutschland will Rache oder Vergeltung. Bei jeder anderen Regierung würde man sagen: Die Täter müssen zur Verantwortung gezogen werden.

 

Auch jetzt wird Israel ein Streben nach Vergeltung und Rache zugeschrieben.

 

Jetzt spricht aber Netanjahu tatsächlich selbst auch von Vergeltung. Er verwendet nun eine klare Kriegsrhetorik. Man darf dabei aber nicht das Selbstverteidigungsrecht Israels vergessen, das es ja wahrnehmen muss. Man muss auch sehen, dass die Hamas weiter täglich Raketen auf Israel feuert. Das wird nicht so stark gesehen, wie man es anderen Ländern zugestehen würde. Oft wird auch verwischt, dass es hier um eine Auseinandersetzung zwischen einer Demokratie und einer Terrororganisation geht. Die Forderung nach einem „Waffenstillstand“ ist dabei hoch problematisch. Sie wertet die Hamas massiv auf, als ob sie ein völkerrechtlicher Kombattant wäre. Sie ist aber nur eine Terrorgruppe.

 

Das humanitäre Kriegsvölkerrecht erkennt an, dass im Krieg auch Zivilisten sterben. Trotzdem sollte auch Israel versuchen, zivile Opfer möglichst zu vermeiden.

 

Auf jeden Fall. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass sich die Hamas überhaupt nicht ans Völkerrecht hält. Sie feuert weiter Raketen auf zivile Ziele in Israel. Sie nutzt Menschen als Schutzschilde und legt ihre Kommandozentralen absichtlich in Schulen, Krankenhäuser oder Flüchtlingslager. Aber auch auf andere Weise wird mit zweierlei Maß gemessen. Als vor einigen Monaten vermutlich ein Kurde einen Terroranschlag auf das türkische Innenministerium in Ankara verübte, antwortete Präsident Erdogan mit Luftschlägen auf kurdische Stellungen. Die internationale Reaktion bestand nicht in vielmehr als einem Schulterzucken. Wenn Israel dasselbe macht, also Luftschläge auf Gaza, dann sieht die Reaktion in der Öffentlichkeit ganz anders aus. Das meine ich mit doppelten Standards.

 

Besonders deutliche Kritik am israelischen Vorgehen kommt derzeit aus Lateinamerika. Da heißt es, die Palästinenser würden unter eine Kollektivstrafe gestellt- eine Kritik, die auch in der UNO geäußert wird. Ist das berechtigt?

 

Dass man den Zugang zu Nahrungsmitteln und Wasser zurückhält, ist in der Tat problematisch. Die lateinamerikanischen Regierungen übersehen aber vollkommen das Selbstverteidigungsrecht Israels. Der kolumbianische Präsident hat beispielsweise eine direkte Linie von der Siedlungspolitik zu diesem terroristischen Massenmord gezogen. Da findet ganz klar eine Täter-Opfer-Umkehr statt. Das kann man so nicht stehen lassen. Israel ist auf grausamste Art angegriffen worden und verteidigt sich jetzt.