Klein:"Es gibt eine Brutalisierung im Diskurs"
Interview 24.01.2023
Felix Klein spricht im Interview mit Jutta Rinas und Simon Benne von der Hannoverschen Allgemeinen Zeitung über die Verrohung der Gesellschaft, die Aufarbeitung von Familiengeschichten und den Sinn der letzten NS-Prozesse.
Herr Klein, in Niedersachsen wächst der Antisemitismus. Die Staatsanwaltschaften zählten im Jahr 2021 über 250 Verfahren, deutlich mehr als im Jahr zuvor. Woran liegt das?
Niedersachsen ist da keine Ausnahme, überall in Deutschland ist die Situation ähnlich. Es gibt eine allgemeine Verrohung der Gesellschaft, eine Brutalisierung im Diskurs. Menschen, die schon immer antisemitisch dachten, äußern sich jetzt offener – und überschreiten dabei rote Linien. Häufig geht es bei den Verfahren um Beleidigungsdelikte, oft im Internet, das von vielen leider als eine Art rechtsfreier Raum empfunden wird. Positiv ist eines: Auch die Bereitschaft, Vorfälle zu melden und Anzeige zu erstatten ist gewachsen.
Fürchten Sie, dass Antisemitismus salonfähig wird?
Antisemitismus rückt zunehmend in die Mitte der Gesellschaft, nicht nur in seiner rechtsextremen Form. Bei den Skandalen um die Documenta in Kassel hat sich gezeigt, dass es ihn auch in progressiven Milieus gibt – und auch den Antisemitismus in migrantischen oder muslimischen Milieus müssen wir in den Blick nehmen.
Wie lässt sich die Sicherheit jüdischer Gemeinden verbessern?
Bei Generalstaatsanwaltschaften wurden inzwischen flächendeckend Antisemitismusbeauftragte eingerichtet, die die Kollegenschaft für das Thema sensibilisieren. Online-Straftaten müssen schneller geahndet werden – darum ist es wichtig, dass wir bald ein Gesetz gegen Hass und Hetze im Internet bekommen.
In Hannover war ausgerechnet ein Polizist, der später bei einer Reichsbürger-Razzia verhaftet wurde, für die Sicherheit Liberalen Jüdischen Gemeinde zuständig.
Das ist wirklich alarmierend. Wir brauchen auch bei der Polizei Fortbildungen, die alle Beschäftigten berät und für Antisemitismus sensibilisiert – und es braucht dort verlässliche Ansprechpersonen für jüdische Einrichtungen. Die Polizei ist ein Abbild der Gesellschaft – und in dieser liegt der Anteil der Menschen, die latent judenfeindlich eingestellt sind, konstant bei 10 bis 15 Prozent.
Sie haben eine nationale Strategie gegen Antisemitismus vorgelegt. Was ist deren Ziel?
Sie zielt darauf ab, dass alle Bürgerinnen und Bürger Antisemitismus erkennen und dagegen Position beziehen, wenn sie ihm begegnen – im Sportverein, in der Schule, im Stadion. Da ist die gesamte Zivilgesellschaft gefragt. Beispielsweise können sich Schulklassen mit dem Thema beschäftigen, und Unternehmen können ihre Geschichte in der NS-Zeit aufarbeiten, damit es nicht zu solchenÄußerungen kommt wie vor einigen Jahren von der hannoverschen Unternehmenserbin Verena Bahlsen.
Wird so etwas nicht immer schwieriger, je mehr Zeit vergeht?
Nicht unbedingt. Der größere Abstand kann auch zu einer größeren Unvoreingenommenheit führen. Die Rolle der eigenen Urgroßeltern kann man oft leichter kritisch hinterfragen als die der eigenen Eltern. Studien belegen: Etwa ein Drittel der Deutschen ist überzeugt, dass ihre Familienangehörigen Verfolgte des NS-Regimes oder im Widerstand waren. Das ist menschlich verständlich, aber historisch eindeutig falsch. Deutschland wird international zu recht für seine Erinnerungskultur gelobt, aber bei der Aufarbeitung von Familiengeschichten gibt es noch viel zu tun.
Wie kann man da vorgehen?
In vielen Familien ist die Rolle der Großeltern mit einem Tabu belegt. „Opa war kein Nazi“, heißt es dann einfach. Oft lohnt es sich aber, nach Spuren zu suchen, auch wenn es schmerzhaft sein kann: Fotos oder Dokumente, die Auskunft darüber geben, wann vielleicht eine Wohnung bezogen wurde oder Möbel billig angeschafft wurden. Tausende Deutsche profitierten ja von der Enteignung der jüdischen Deportierten; vieles wurde akribisch dokumentiert. Ich selbst habe erst durch den Fund einer Personalakte in einem Archiv erfahren, dass mein eigener Großvater, ein Beamter, 1934 in die SA eintrat. Ich war ziemlich schockiert, als ich dies erfuhr.
Immer mehr Jugendliche haben ihre familiären Wurzeln aber gar nicht in Deutschland.
Diese anzusprechen, ist besonders wichtig. Denn das heutige Deutschland kann man nur verstehen, wenn man seine Geschichte kennt. Dazu gehört auch die Sensibilität in Bezug aufIsrael. Die meisten Deutschen sehen in dem Land parteiübergreifend einen sicheren Hafen für jüdische Verfolgte aus aller Welt. Anderswo ist dies anders. Auch im Bereich der postkolonialen Studien gilt Israel oft als letztes Kolonialprojekt des Westens, bei dem die ortsansässige Bevölkerung verdrängt wird. Da ist es wichtig, die unbestreitbare Vertreibung von Palästinensern im historischen Kontext zu betrachten und differenziert zu argumentieren. Es gilt letztlich, Brücken zu bauen von und zu den unterschiedlichen Perspektiven, aus denen auf diese Geschichte geblickt wird—die unser aller Geeschichte ist, wenn wir hier zusammen leben.
Oft hört man, jungen Deutschen würde durch die Beschäftigung mit der Geschichte nur ein schlechtes Gewissen gemacht …
Deutschland war nun mal das Land der Täter, doch es ist auch klar, dass die jungen Leute keine persönliche Schuld trifft. Es hilft auch nichts, sich moralisch über die früheren Generationen zu erheben. Sinnvoller ist es, zu zeigen, dass Menschen immer Spielräume bei ihrem Handeln haben, die sie unterschiedlich nutzen können. Und es ist sinnvoll, Jugendlichen positive Vorbilder zu zeigen.
Wer könnten solche Vorbilder sein?
Es gibt einige Menschen aus Hannover, die in der Gedenkstätte Yad Vashem als „Gerechte unter den Völkern“ geehrt werden. Das Ehepaar Lina und Rudolf Kiefert etwa versteckte im Frühjahr 1945 in seiner Wohnung den ungarischen Juden Alexander Barok, der aus einer Evakuierungskolonne geflohen war. Und Gertrud Kochanowski und ihr Vater versteckten drei Jahre lang die Jüdin Margot Bloch. Ich würde vorschlagen, in Hannover eine Straße nach Gertrud Kochanowski zu benennen.
Einige Straßen wurden – teils nach heftigen Debatten – umbenannt, weil ihre Namensgeber NS-belastet waren. Wie weit will man da gehen? Auch von Martin Luther gab es antisemitische Äußerungen. Muss jetzt die Lutherstraße umbenannt werden?
Nein, so weit würde ich nicht gehen! Die Trennlinie sollte bei der Schoa verlaufen. Es gibt auch antisemitische Texte von Immanuel Kant oder Richard Wagner, doch in solchen Fällen würde ich vor ausufernder Cancel Culture warnen. Hilfreicher wäre es, an den Straßenschildern kleine Tafeln mit aufklärenden Texten anzubringen.
Vor deutschen Gerichten gibt es derzeit die letzten NS-Prozesse, bei denen gegen hochbetagte Greise nach Jugendstrafrecht verhandelt wird. Wie sinnvoll ist so etwas noch?
Es ist wichtig, dass diese Prozesse stattfinden. Der Strafgedanke steht dabei gar nicht im Vordergrund. Aber für die letzten Überlebenden und ihre Angehörigen hat es große Bedeutung, dass vor deutschen Gerichten noch einmal festgestellt wird, was Recht und Unrecht war. Künftige Generationen werden nicht mehr mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen sprechen können. Umso wichtiger ist es, authentische Orte der Erinnerung zu haben, die zeitgemäße pädagogische Vermittlung anbieten, wie die Gedenkstätten Ahlem oder Bergen-Belsen. In Niedersachsen gibt es viele solcher Projekte, die letztlich darauf abzielen, die Zivilcourage junger Menschen zu stärken. Wenn dieses gelingt, sind wir auf einem guten Weg.