"Demokratie lässt die bestmögliche Kreativität zu"
Interview 05.05.2023
Felix Klein im Interview mit Ursula Rüssmann, Martin Benninghoff, Daniel Roßbach und Hanning Voigts von der Frankfurter Rundschau.
Der Antisemitismus-Beauftragte des Bundes, Felix Klein, über Meinungsfreiheit und Gegenrede, notwendige Verbote, selbstbewusste Toleranz und warum Migrationserfahrung eine Chance für eine moderne Erinnerungskultur darstellt
Herr Klein, rund 200 000 Jüdinnen und Juden leben in Deutschland. Wie "normal" und alltäglich ist jüdisches Leben im Land der NS-Täter heute?
Es ist ein Wunder, wie vielfältig jüdisches Leben in Deutschland wieder ist. Wir bauen Synagogen, hier in Frankfurt entsteht eine jüdische Akademie. Wir haben zwei Ausbildungsstätten für Rabbiner in Deutschland. Das sind große Vertrauensbeweise von jüdischen Menschen in unser Land.
Trotzdem: Nach wie vor müssen jüdische Schulen und Kindergärten bewacht werden. Menschen, die sich mit Kippa zeigen, werden angegriffen. Die Statistiken zeigen, dass solche Vorfälle häufiger auftreten. Wie wollen Sie konkret dagegen vorgehen?
Das ist eine Aufgabe nicht nur der Politik, sondern der gesamten Gesellschaft. Nur dann kann es gelingen, Antisemitismus zurückzudrängen. Bei antisemitischen Übergriffen sind natürlich in erster Linie Polizei und Justiz gefragt. Ich finde nur, wir müssen viel früher ansetzen, nämlich beim Antisemitismus im Alltag, in Betrieben und am Arbeitsplatz, in Schulen und im Fußballstadion. Antisemitismus bedroht nicht nur Jüdinnen und Juden, sondern uns alle. Das ist auch ein Ziel unserer "Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und für jüdisches Leben": die Gesellschaft dafür zu sensibilisieren, dass der Kampf gegen Antisemitismus auch ihr Kampf ist - und nicht nur der für und von jüdischen Menschen.
Manche Jüdinnen und Juden berichten, dass sie sogar in linksintellektuellen Gesprächsrunden vermeiden, von ihrem Jüdischsein zu berichten, weil sie Sorge haben, plötzlich als "israelische Botschafter" angesprochen zu werden?
Ich stelle auch leider immer wieder einen verkrampften Umgang mit dem Thema fest. Wenn jemand sagt: "Ich bin Jude", dann wissen viele nicht, was sie sagen sollen. Eigentlich sollten sie genau so damit umgehen, als würde jemand sagen: "Ich bin evangelisch" oder "Ich bin Buddhist". Leider ist es oftmals eben nicht so und führt dazu - genau wie Sie sagen -, dass viele Jüdinnen und Juden ihre Identität nicht offenlegen. Das muss sich ändern.
Aber wie - konkret?
Gerade hier in Frankfurt gibt es ja viele Möglichkeiten, Jüdinnen und Juden zu treffen. Man kann in die Gemeinde gehen, es gibt Konzerte. Jüngere Jüdinnen und Juden können in der Schule von ihrem Alltag berichten, zum Beispiel welche Musik sie hören, denn diese direkten Begegnungen entkrampfen den Umgang miteinander sehr stark. Wir müssen Jüdinnen und Juden auch davor schützen, dass sie als Stellvertreterinnen und Stellvertreter Israels wahrgenommen werden. Das ist eine fatale Assoziation.
Viel diskutiert wird der Antisemitismus von Migrantinnen und Migranten aus muslimisch geprägten Ländern. Andererseits gibt es ja vielfältige jüdisch-muslimische Kooperationen. Wie stark ist deren Einfluss auf muslimische Communities?
Der Kampf gegen diese Form von Antisemitismus gelingt nur, wenn wir möglichst viele muslimische Organisationen und Moscheegemeinden mitnehmen. Und deswegen bin ich froh, dass es sehr viele muslimische Organisationen gibt, die sich der Auseinandersetzung mit Antisemitismus widmen. Auch in der Deutschen Islamkonferenz sind einige vertreten. Ich bin sehr eng mit der kurdischen Gemeinschaft Deutschlands verbunden. Das sind immerhin 800 000 Kurden, die in Deutschland leben.
Sie haben im Großen und Ganzen nur ein geringes Antisemitismus-Problem, auch weil sie selber keinen Staat haben. Sie wissen also, wie das ist. Gleichwohl gibt es einen antisemitischen Hardcore. Und diese Menschen sind dann doch nur mit Mitteln der Repression, mit Verfassungsschutz und dem Strafrecht zu erreichen.
Sollten Organisationen, deren Anhängerinnen und Anhänger "Tod Israel" skandieren, verboten werden?
Zum Teil ja. Das Betätigungsverbot gegen die Hisbollah zum Beispiel wirkt schon. Das ist mehr als Symbolik. Es muss ein Zeichen gesetzt werden, dass der Staat derartige Aktivitäten nicht akzeptiert. Bei der Palästinenserorganisation PFLP und ihrer Unterorganisation "Samidoun" sollte ebenfalls ein Verbot geprüft werden.
Sind Sie da im Konsens mit den muslimischen Organisationen?
Das ist Teil der Diskussion. Manche sehen das natürlich auch anders als ich. Natürlich muss es legitim sein, gegen die negativen politischen Entwicklungen in Israel zu demonstrieren. Das Gegenargument, Verbote würden manche radikalisieren, halte ich aber für falsch.
Bei all den verschiedenen Arten von Antisemitismus - was ist das wichtigste Gegenmittel? Bildung und die Erinnerungskultur? Es ist doch beschämend, dass viele junge Menschen gar nicht mehr wissen, was Auschwitz ist.
Wir haben mit der Erinnerungskultur einen Schlüssel in der Hand, um wirkungsvoll gegen Antisemitismus vorzugehen. Wir können zeigen, wohin die extreme Form von Antisemitismus in unserem Land geführt hat, nämlich zur systematischen Vernichtung von sechs Millionen Juden. Das Erinnern ist allerdings kein Wert an sich, sondern wir erinnern uns, um den gesellschaftlichen Kompass neu zu justieren, um Diskriminierung heute zu verhindern. Und hier sind zum Beispiel muslimische Menschen sehr aufgeschlossen, denn sie erleben ja selber oftmals Diskriminierung.
"Den Kompass neu justieren" - wie funktioniert das?
Ich finde, die besten Formate sind die, die zeigen, dass Diskriminierung jeden treffen kann. Erinnerungskultur sollte Empathie wecken. Gerade jetzt, in Zeiten, in denen die Überlebenden der Shoah bald nicht mehr in Schulen gehen können, müssen wir uns neue Formate überlegen. Diese müssen als Chance und Angebot vermittelt werden, nicht als Verpflichtung und Druck.
Wir müssen die Erinnerungskultur verändern in ein Recht auf Bescheidwissen. Da reichen die Rituale nicht, bei denen die Honoratioren eines Ortes, zum Beispiel im Bundestag, zusammenkommen, getragene Reden halten und dann wieder zum Alltagsgeschäft übergehen.
Manchmal drängt sich der Eindruck auf, das ritualisierte Erinnern im Bundestag oder anderswo wird gar nicht mehr so stark wahrgenommen.
Ich bin trotzdem ein Anhänger davon, dass Gedenktage begangen werden, denn das schafft Aufmerksamkeit. Und ich glaube, bei einem Gedenkstättenbesuch versteht jeder, wie es war, in einem Staat gelebt zu haben, auf den man sich nicht verlassen konnte und dem man völlig ausgeliefert war. Das verstehen Menschen mit Migrationshintergrund, gerade aus Syrien zum Beispiel, besonders gut. Aber Sie haben natürlich recht: Es gibt Wissenslücken, die erschreckend sind, und hier müssen wir natürlich dafür sorgen, dass Geschichte in den Lehrplänen nicht nach hinten rutscht.
Nicht nur Jugendliche sind Falschinformationen und Verschwörungserzählungen im Netz ausgeliefert. Was kann man dagegen tun?
Es ist wichtig, dass das Gesetz über digitale Dienste jetzt endlich umgesetzt wird. Auf EU-Ebene ist der sogenannte Digital Services Act schon verabschiedet. Der soll bewirken, dass Hass und Hetze im Internet nicht nur gelöscht werden müssen, sondern auch die IP-Adressen derer, die solche Inhalte verbreiten, an die Polizei weitergegeben werden. Das Zweite ist: Antisemitismus ist ja in der Regel nicht strafbar. Aber ich finde, wenn es Gruppen gibt mit mehreren Tausend Mitgliedern oder Messenger-Dienste, die fast wie Medien funktionieren, dann müssen diese auch verantwortlich gemacht werden können für die Inhalte, so wie man eine Zeitungsredaktion eben auch verantwortlich macht.
Lassen Sie uns in die sogenannte Mitte der Gesellschaft schauen. Wenn jemand wie Ex-Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen von "Globalisten" spricht, andere von George Soros oder der Verschwörungserzählung vom "großen Austausch" raunen, sind doch antisemitische Klischees dunkler jüdischer Finanzhaie gemeint, die die Welt beherrschen wollen. Was tut man gegen solche Narrative?
Das ist sehr schwierig, wir sind ein Rechtsstaat. Man kann nicht alles verbieten. Es muss gesellschaftlichen und politischen Gegendruck geben. Maaßen hat ja Gegenwind bekommen, auch von mir. Ich bin froh, dass die Reflexe in unserer Gesellschaft doch sehr gut funktionieren. Wir müssen eine Täter-Opfer-Umkehr verhindern, dass sich jeder als Opfer bezeichnet, nach dem Motto: Man dürfe ja nichts mehr sagen. Sie können ja sagen, was sie wollen, müssen aber damit rechnen, dass sie Gegendruck kriegen. Das müssen sie dann schon aushalten.
Zuletzt hat eine Studie der Ebert-Stiftung Bedenkliches zutage gefördert. Verschwörungserzählungen sind sehr weit verbreitet. Sind Sie nicht in Sorge, dass da etwas kippt?
Die Reflexe funktionieren ja noch. Aber ich teile Ihre Bedenken. Das war vor zehn Jahren noch anders, das ist richtig. Wir müssen den Menschen klarmachen, immer wieder, wie wir alle von der Demokratie profitieren, dass Demokratie eben die bestmögliche Kreativität in allen Bereichen zulässt und dafür sorgt, dass es wirtschaftlichen Wohlstand gibt. Gleichzeitig müssen wir aber auch Grenzen ziehen und wehrhaft sein. Ich stelle sehr interessante Entwicklungen fest, beispielsweise in Betrieben. Sehr angetan bin ich zum Beispiel von einer innerbetrieblichen Gruppe bei der BASF, die sich der problematischen Geschichte ihres Unternehmens widmet.
Und beim Staat selbst? Sie kennen sicherlich das Buch von Ronen Steinke, "Terror gegen Juden". Steinke hat darin aufgeschlüsselt, wie der Staat in der Bekämpfung der extremen Rechten und des Antisemitismus systematisch versagt hat.
Das ist ein wichtiges Thema, weil der Kampf gegen Antisemitismus und gegen Rechtsextremismus oftmals daran scheitert, dass sie gar nicht erkannt werden von der Polizei, den Sicherheitsbehörden und auch der Justiz. Wir müssen die Sensibilität der Richterschaft und der Staatsanwaltschaften erhöhen. Es gab in der Vergangenheit skandalöse Fehlentscheidungen der Justiz im Umgang mit Antisemitismus.
Zum Beispiel?
Im Europawahlkampf 2019 hat die Partei "Die Rechte" "Zionismus stoppen, Israel ist unser Unglück" plakatiert. Das ist von einigen Staatsanwaltschaften nicht als Volksverhetzung angesehen worden. Das müssen wir ändern, indem wir die Sensibilität in Staatsanwaltschaften erhöhen. Oder bei der Polizei: Wie werden angehende Polizistinnen und Polizisten geschult? Anders als früher gibt es jetzt Schulungsangebote in der Bundespolizei, beim Bundeskriminalamt und Verfassungsschutz, dem Bundesnachrichtendienst, aber auch bei der Landespolizei. Die Ernennung von Polizei-Rabbinern, wie sie in Baden-Württemberg stattgefunden hat, sollte hier in Hessen eigentlich auch kommen. Vergessen wir nicht: Die Synagoge in Halle war deswegen nicht geschützt, weil die Polizei dort nicht wusste, dass es der höchste jüdische Feiertag ist. Schockiert haben mich die antisemitischen Chats bei der Polizei in Frankfurt. Wer das meldet, handelt nicht unsolidarisch, sondern tut genau das Richtige.
Aber müssten die Dienststellen nicht auch selbst aktiv werden?
Das tun sie auch. Ich habe jetzt mehrfach von sehr bewegenden Gedenkveranstaltungen erfahren, wo Polizeianwärterinnen und Polizeianwärter zum 9. November die Berichte der Polizei vom 9. November 1938 verlesen und reflektiert haben. Diese Berichte dokumentieren das totale Versagen der damaligen Polizei.
Zurück in die Gegenwart: Im vergangenen Jahr hat die Documenta in Kassel mit einem antisemitischen Kunstwerk für Aufsehen gesorgt. Was ist von dem Skandal hängengeblieben?
Dass sich so etwas nicht wiederholen darf. Denn es gab ja Warnungen und trotzdem wurde institutionell nicht reagiert.
Ja, aber ist die Quintessenz nicht, dass man in Deutschland Antisemitismus wieder offen zeigen darf - und im Grunde passiert kaum etwas?
Es gibt hier schon Steuerungsmöglichkeiten, weil die Documenta und generell Kunst und Kultur in Deutschland maßgeblich von der öffentlichen Hand gefördert werden. In die Förderbescheide können entsprechende Passagen zum Thema Antisemitismus und Diskriminierung aufgenommen werden. Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden, hat öffentlich gesagt, er hätte es nicht für möglich gehalten, dass so etwas in Deutschland öffentlich subventioniert gezeigt werden kann. Dem ist nichts hinzuzufügen. Da sahen alle Beteiligten schlecht aus.
Ist das Problem nicht vielmehr, dass es in der Kultur, auch in der linksliberalen Öffentlichkeit, einen starken israelbezogenen Antisemitismus gibt? Das zeigt ja die Unterstützung für die Boykottbewegung BDS.
Auf jeden Fall würde ich sehr zustimmen, dass gerade der israelbezogene Antisemitismus in Kunst- und Kulturkreisen sehr weit verbreitet ist. Und damit müssen wir deutlich umgehen, wenn wir internationale Kunst-Veranstaltungen hier organisieren. Das werfe ich auch dem Documenta-Künstlerkollektiv "Ruangrupa" vor, dass sie nicht berücksichtigt haben, welche Sensibilität bei diesem Thema in Deutschland herrscht. Und sie haben bis zum Ende nicht so richtig verstanden, warum die Aufregung so groß war.
Wie bewerten Sie die Boykottbewegung BDS grundsätzlich?
Boykott kann ein legitimes Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. Aber beim genaueren Hinsehen erkennt man, dass sich - soweit ich weiß - kein Verantwortlicher der BDS-Bewegung für die Zweistaatenlösung ausspricht. Israel soll ganz klar in allen Bereichen isoliert werden, auch Israelis, die ihre Regierung sehr kritisch sehen. Es geht um Stigmatisierung und eine Kollektivhaftung aller Israelis. BDS richtet großen politischen Schaden an.
Beim Thema "Kritik an Israel" geht es oft darum, wann es antisemitisch wird. Aber muss nicht auch aus Deutschland viel mutiger kritisiert werden, was aktuell in Israel passiert?
Es ist ja schon so, dass die Bundesregierung durchaus israelisches Regierungshandeln kritisiert. Außenministerin Baerbock finde ich da sehr klar, und auch beim Treffen von Bundeskanzler Scholz mit Benjamin Netanjahu wurde darüber deutlich gesprochen. Generell sind wir als Deutsche gut beraten, eine gemeinsame Linie mit der EU hinzubekommen, die es etwa bei der Verurteilung des israelischen Siedlungsbaus in den palästinensischen Gebieten oder anderen Verstößen gegen das Völkerrecht bereits gibt. Mit deutschen Belehrungen gegenüber Israel sollten wir allerdings sehr vorsichtig sein.
Wir sollten noch Roger Waters ansprechen. Wie bewerten Sie es, dass der ehemalige Pink-Floyd-Musiker jetzt doch in Frankfurt auftreten darf?
Ich finde diese Gerichtsentscheidung hochproblematisch. Ich würde die Stadt Frankfurt ermuntern, Rechtsmittel dagegen einzulegen, um auch als Lehre aus der Documenta zu zeigen: Roger Waters ist hier nicht willkommen. Ich finde schon, die Exekutive sollte klarmachen, dass Antisemitismus nichts ist, was unwidersprochen bleibt. Deshalb sollten hier alle juristischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden.