Klein: "Bildung, Aufklärung und Begegnung, auch Empathie, das sind die wichtigsten Schlüssel"
Interview 15.10.2022
Felix Klein spricht im Interview mit Jan Wulf und Peter Intelmann von den Lübecker Nachrichten über den Anstieg antisemitischer Straftaten in Deutschland, über Antisemitismus auf der Documenta und über Unterschiede und Herausforderungen im Kampf gegen Judenhass auf europäischer Ebene.
Lübecker Nachrichten
2021 wurden 3027 antisemitische Straftaten in Deutschland registriert, so viele wie noch nie. Sie haben viel zu tun.
Das ist ein Alarmzeichen, absolut. Aber es zeigt auch, dass Betroffene heute eher zur Polizei gehen. Das Vertrauen in die Behörden ist gestiegen.
Wie ist die Bedrohungslage zurzeit für Juden in Deutschland?
Die Bedrohung ist da, nicht nur latent.
Das zeigt auch der Zaun um die Synagoge in Lübeck.
Das ist ganz furchtbar und im Moment nötig, aber daran dürfen wir uns nicht gewöhnen.
Bekommen Sie die Bedrohung auch von den jüdischen Gemeinden mitgeteilt?
Ja, die Lebensqualität vieler Menschen wird auch durch Bedrohungen unterhalb der Strafbarkeitsschwelle stark beeinträchtigt: Pöbeleien, Gesten, Angriffe in der Schule oder am Arbeitsplatz. Und bei den Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen hat sich das noch verstärkt. Deshalb ist es wichtig, dass wir Anlaufstellen haben, um Vorfälle zu melden und Beratung zu erhalten, wie etwa LIDA-SH in Schleswig-Holstein.
Kommt da im Zeichen der vielen Krisen noch einiges auf uns zu?
Ich fürchte ja. Wir haben ja jüngst in Leipzig schon erste Anzeichen gesehen, wo Linke und Rechte gemeinsam marschiert sind. Die Unzufriedenheit, die dort artikuliert wird, ist oft antisemitisch gefärbt. Ich habe große Sorge, dass das anwächst, wenn es kalt wird und die Gasrechnungen kommen. Daher ist es gut, dass der Verfassungsschutz mit der „Delegitimierung“ des Staates eine eigene Kategorie für die Beobachtung verfassungsfeindlicher Umtriebe geschaffen hat.
Ist Antisemitismus einer bestimmten sozialen Schicht zuordnen?
Er ist in allen Schichten und auch regional überall verbreitetn, vor allem der israelbezogene Antisemitismus. Bis zu 40 Prozent der Bevölkerung stimmen Sätzen zu wie: Bei dem, was Israel tut, kann ich verstehen, wenn man etwas gegen Juden hat. Diese früher vor allem für einen Teil der Linken typische Haltung ist inzwischen auch im Mainstream angekommen, in ganz Europa auch in akademischen Kreisen.,. Die documenta hat das gerade auf erschreckende Weise gezeigt.
Hätte man die documenta abbrechen sollen?
Man hätte zumindest viel deutlicher reagieren müssen. Mit einem Abbruch wären auch alle unbeteiligten Kulturschaffenden bestraft worden. Aber bei Veranstaltungen wie dieser mit einer solchen internationalen Strahlkraft muss der Bund künftig Möglichkeiten haben einzugreifen., wenn Schaden für die außenpolitischen Beziehungen droht. Und das Ansehen der Bundesrepublik hat durch die documenta Schaden genommen.
Ist der rechte oder der muslimische Antisemitismus bedrohlicher?
Laut Kriminalstatistik ist der rechte quantitativ die größte Gefahr, wir müssen aber jeden Antisemitismus bekämpfen. Und zwar alle, der Staat wie die Zivilgesellschaft. Aber es gibt natürlich auch unter Muslimen Antisemitismus.
Und er wächst mit dem Grad der Religiosität.
So hat es eine Allensbach-Studie gezeigt. Das muss man klar ansprechen. Aber ich freue mich, dass viele muslimische Verbände und Organisationen den Kontakt zu mir suchen.
Würden Sie Juden in Deutschland raten, mit der Kippa durch die Stadt zu gehen?
Ich habe 2019 mal eine solche Äußerung gemacht und wollte aufrütteln. Dass Juden angegriffen werden, wenn sie eine Kippa tragen, ist Realität in Deutschland. Damit dürfen wir uns nicht abfinden. Es gibt mit (stopantisemitismus.de) eine Seite, die ich unterstütze und auf der solcher Alltags-Antisemitismus beschrieben wird, den Juden in Deutschland erleben. Man bekommt dort Hinweise, wie man sich dagegen wehren kann. Etwa gegen Vorurteile wie jenes, dass alle Juden reich seien. Dabei leben heute migrationsbedingt viele Juden in Deutschlandunterhalb der Armutsgrenze. Im Koalitionsvertrag steht aber ausdrücklich, dass die Altersarmut der jüdischen Kontingentflüchtlinge als Problem gelöst werden soll. Immerhin: Als ich 2018 antrat, haben nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung Antisemitismus für ein maßgebliches Problem gehalten, jetzt sind es fast 70 Prozent. Das Bewusstsein dafür ist gestiegen.
Wo stehen wir in Europa in Sachen Antisemitismus?
Etwa im Mittelfeld, auch wenn man die Daten schlecht vergleichen kann. Und es ist interessant, dass etwa in Frankreich und Belgien jüdische Einrichtungen geschützt werden müssen, in Polen, Ungarn oder Tschechien bisher aber nicht. Dort äußert sich der Antisemitismus anders, etwa auf Wahlplakaten.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie jetzt nach Italien gucken?
Da habe ich mit Blick auf die sich jetzt abzeichnende Regierungsbildung große Sorgen. Wenn wir es nicht schaffen, den Antisemitismus in Europa wirksam zurückzudrängen, ist unser europäisches Projekt gescheitert.
Liegt der Schlüssel in den Schulen?
Bildung, Aufklärung und Begegnung, auch Empathie, das sind die wichtigsten Schlüssel. Der Zentralratsvorsitzende Josef Schuster sagt, niemand werde als Antisemit geboren. Das kann ich nur unterstreichen. Wir können gar nicht früh genug ansetzen, schon in der Kita kann Demokratiebildung stattfinden. Dazu gehören auch Begegnungen mit Israel, wo einige Bundesländer hohe Zuschüsse zu Fahrten zahlen und andere gar keine. Schleswig-Holstein liegt da in der Mitte. Ich bemühe mich auch anzuregen, dass Film und Fernsehen die Normalität jüdischen Lebens darstellen. Ein gutes Beispiel ist Meret Becker als jüdische „Tatort“-Kommissarin, deren jüdisches Leben nebenbei mit erzählt wird. Wir müssen wegkommen davon, bei Juden vor allem an Antisemitismus, Nahost-Konflikt und Holocaust zu denken. Jüdinnen und Juden sind genau wie die nichtjüdische Bevölkerung ganz unterschiedlich und vor allem sehr lebendig!