Felix Klein: "Corona-Krise war ganz klar ein Brandbeschleuniger für Antisemitismus"
Interview 05.03.2022
Felix Klein spricht im Interview mit Lucien Scherrer von der Neuen Zürcher Zeitung über den Zusammenhang zwischen der Corona-Krise und Antisemitismus, über Maßnahmen gegen Judenhass und warum Deutschland trotz allem ein sicheres Land für Juden ist.
Neue Züricher Zeitung
Herr Klein, die Corona-Pandemie ist zu Ende, aber neben vielem anderen hat sie gezeigt: Judenhass und Verschwörungstheorien sind auch über 70 Jahre nach dem Holocaust weit verbreitet.
Felix Klein: Die Corona-Krise war ganz klar ein Brandbeschleuniger für Antisemitismus. In Krisenzeiten werden die Menschen anfälliger für irrationale Erklärungsmuster. Das ist in der Geschichte oft so gewesen. Den Juden wurde im Mittelalter vorgeworfen, die Pest verursacht zu haben. In den 1980er Jahren wurde ihnen vorgeworfen, Aids in die Welt gebracht zu haben. Dass sie jetzt in den Augen von Anhängern kruder Verschwörungserzählungen auch für dieses Virus verantwortlich sein sollen, ist deshalb leider nicht überraschend, aber das Ausmass ist wirklich erschreckend. Gemäss einer Studie des Institute for Strategic Dialogue hat sich die Zahl der antisemitischen deutschsprachigen Inhalte im Netz während der Pandemie verdreizehnfacht. Dinge, die früher vielleicht nur gedacht wurden, werden jetzt offen geäussert, und ich bin beunruhigt über das Mass an Gleichgültigkeit, ob das strafrechtlich relevant ist oder nicht.
Trotzdem gibt es eine internationale Tendenz, Juden als potenzielle Rassismusbetroffene auszuschliessen. So behauptete die amerikanische Schauspielerin Whoopi Goldberg kürzlich, der Holocaust sei eine Angelegenheit unter Weissen gewesen – also nichts, was mit Rassismus zu tun habe.
Diese Debatten zeigen, dass es absurd ist, Antirassismus gegen Antisemitismus auszuspielen und umgekehrt. Man muss im Gegenteil gegen alle Diskriminierungen kämpfen, ohne eine Konkurrenz zwischen den Opfern zu konstruieren – zumal auch längst nicht alle Juden weiss sind.
Manche Antirassisten schieben Juden kollektiv in die Täterrolle, um den Staat Israel zu delegitimieren: Man wirft ihnen vor, in Israel mit den Palästinensern dasselbe zu machen wie Südafrika mit den Schwarzen oder Hitler mit den Juden.
Das halte ich für eine ganz bedenkliche Entwicklung der letzten Jahre und Jahrzehnte. Oft werden damit die Greueltaten der Nationalsozialisten relativiert. Der israelbezogene Antisemitismus ist die am meisten verbreitete Form von Antisemitismus in Europa, auch in Deutschland. Bis zu 40 Prozent der Bevölkerung stimmen Aussagen zu wie: «Bei dem, was Israel tut, kann ich verstehen, dass man etwas gegen die Juden hat.» Das ist besorgniserregend, und deswegen sind wir gut beraten, das international anzugehen.
Das Gefährliche an diesem Antisemitismus ist wohl auch, dass sich alle mit ihm identifizieren können: Rechtsextreme, Linksextreme, «Antiimperialisten», Verschwörungstheoretiker und Muslime, die sich mit den Palästinensern identifizieren.
Ja, dieser Antisemitismus ist bis in die Mitte der Gesellschaft anschlussfähig, wie man bei den Corona-Demonstrationen sehen konnte. Da finden Leute zusammen, die zuvor wenig bis gar keine Berührungspunkte hatten. Es wird wahlweise behauptet, Israel habe das Virus erfunden, um die muslimische Bevölkerung auszulöschen oder damit die Juden mit Impfstoffen Geld verdienen. Auch bei Wohlmeinenden, die keinerlei Ressentiments gegen Juden haben, gibt es viel Unwissen. Als der jüdische Sänger Gil Ofarim in einem Video erklärte, er sei in einem Hotel in Leipzig antisemitisch beleidigt worden, rollten Demonstranten vor dem Hotel israelische Flaggen aus – als ob sich jeder Jude mit Israel identifizieren müsse oder gar Israeli sei.
Der Fall Ofarim hat international für Aufsehen gesorgt. Bis heute ist unklar, ob Ofarims Vorwürfe wahr sind, es gibt ernste Zweifel an seinen Aussagen. Hat er damit dem Kampf gegen Antisemitismus geschadet?
Jedenfalls gibt es nach meiner Überzeugung in dieser Sache keine Gewinner. Weil nicht klar ist, ob sich der behauptete Sachverhalt so abgespielt hat, haben manche Leute Rückschlüsse gezogen auf alle Juden. Das hat leider dazu geführt, dass jüdische Organisationen antisemitische Briefe und Drohungen bekommen haben. Aber unabhängig davon, wie das Verfahren ausgeht, bin ich beeindruckt davon, mit welcher Energie Staatsanwaltschaft und Polizei diesen Fall aufarbeiten. Ich würde mir wünschen, dass die Aufmerksamkeit bei anderen Fällen auch so gross wäre.
Denken Sie da an konkrete Fälle?
Im letzten Jahr wurde ein Mann in Köln von Jugendlichen angegriffen, weil er eine Kippa trug. Von einer Anklage habe ich bis heute nichts gehört. Dabei wurden alle Täter gefasst, es gab Zeugenaussagen und Videobeweise. Generell werden immer noch viel zu viele Verfahren eingestellt, weil nicht erkannt wird, dass es um Antisemitismus geht.
Wie kann man den Antisemitismus bekämpfen?
Wichtig ist eine gute Mischung aus Prävention und Repression, zum Beispiel, indem wir den Antisemitismus im Netz besser ahnden. In Deutschland ist im April 2021 das Gesetzespaket gegen Hass und Hetze in Kraft getreten. Seit dem 1. Februar dieses Jahres sind die Betreiber von sozialen Netzwerken verpflichtet, Postings mit strafbaren Inhalten wie etwa Volksverhetzung nicht nur zu löschen, sondern auch dem BKA zu melden und die IP-Adresse der Absender herauszugeben. Auch Gegner der Corona-Politik, die sich Judensterne mit der Aufschrift «ungeimpft» anheften und sich mit den Juden im Nationalsozialismus vergleichen, können strafrechtlich belangt werden, weil sie den Holocaust relativieren.
Was kann die Gesellschaft tun?
Wir sind auf die Bürgerinnen und Bürger in unserem Land angewiesen, gegen Diskriminierung und für die freiheitlichen Grundwerte einzustehen und zu verhindern, dass aus Worten Taten werden. Dafür müssen sich alle verantwortlich fühlen, der Staat allein kann das nicht richten. Gleichzeitig brauchen wir eine wehrhafte Demokratie. Der rechtsextreme Attentäter von Halle hat sich etwa im Internet radikalisiert. Wir müssen die Möglichkeiten des Verfassungsschutzes verbessern, und wir brauchen Bildungsmassnahmen für alle Lebensphasen und Demokratieerziehung. Wir müssen in die Gegenden gehen, wo diese Leute am Computer sitzen.
Welche Gegenden meinen Sie?
Ich denke etwa an ländliche Gebiete, wo man bestehende Strukturen, in denen Menschen zusammenkommen, dafür nutzen könnte, etwa die freiwillige Feuerwehr, Theater, Jugendklubs und so weiter. Wir können nicht erwarten, dass die Menschen automatisch sensibilisiert sind und Gedenkstätten besuchen. Wir müssen viel proaktiver auf jene zugehen, von denen wir wissen, dass sie potenziell gefährdet sind.
Wie sieht es in den Städten aus? Dort werden Juden ja oft von Jugendlichen angegriffen, die aus arabischen und islamischen Kulturen stammen.
Auch hier müssen wir unterscheiden zwischen islamistischem Antisemitismus und Vorurteilen in der muslimischen Bevölkerung, die es genauso in der Mehrheitsgesellschaft gibt. Das erste Problem muss mit nachrichtendienstlicher Beobachtung und Vereinsverboten bekämpft werden, wie das auch schon gemacht wurde in Deutschland, etwa im Fall des Hizbullah. Der Antisemitismus unter Muslimen bezieht sich oft auf Israel. Es gab in Deutschland im letzten Mai ja diese furchtbaren Demonstrationen vor Synagogen und jüdischen Einrichtungen. Deshalb müssen wir den Leuten erst einmal klarmachen: Nur weil jemand jüdisch ist, hat er mit Israel nichts zu tun, und es ist Unsinn, ihn oder sie für die Politik eines Staates verantwortlich zu machen – so, wie sich kein Muslim automatisch als Anwalt der PLO oder der Hamas fühlen muss.
Nachdem Demonstranten in Gelsenkirchen «Scheiss-Juden!» brüllten, berichteten deutsche Medien zuerst verharmlosend von «antiisraelischen Protesten». Wird diese Form des Antisemitismus unterschätzt, weil man sie im Gegensatz zum Rechtsextremismus noch nicht richtig kennt?
Es ist eine Tatsache, dass in Deutschland viele Menschen aus Regionen eingewandert sind, wo der Holocaust in der öffentlichen Wahrnehmung keine grosse Rolle spielt. Diese Menschen müssen wir für unsere Erinnerungskultur gewinnen, egal, ob ihre Eltern oder Grosseltern zu jener Zeit in Anatolien, in Syrien oder in Afrika waren. Das kann auch über Emotion und über Empathie geschehen. Es gibt zum Beispiel ein Videospiel, «Through the Darkest of Times», in dem man eine Widerstandsgruppe im Berlin der Nazizeit anführt. Oder es gibt die Geschichte des ägyptischen Arztes Mohamed Helmy, der in der Nazizeit selber rassistisch angefeindet wurde und die 17-jährige Jüdin Anna Boros versteckt und gerettet hat. Solche Geschichten sollten im Schulunterricht aufgegriffen werden. Sie zeigen, dass Muslime nicht automatisch antisemitische Haltungen vertreten, und sie bieten positive Identifikationsfiguren.
Derzeit wird in Berlin darüber diskutiert, ob man Strassen umbenennen soll, die nach Martin Luther, Richard Wagner und anderen deutschen Antisemiten benannt sind. Finden Sie das eine gute Idee?
Solche Debatten verdeutlichen, wie stark durchsetzt unsere europäische Geisteskultur und auch die politische Kultur von Antisemitismus ist. Deshalb ist diese Diskussion gut. Ich würde aber unterscheiden, ob es um Personen geht, die in der NS-Zeit wichtige Ämter innehatten, oder um Künstler wie Wagner, die den damals weit verbreiteten Antisemitismus im Bürgertum vertraten. Hier sollten wir uns hüten, eine Art «Cancel-Culture» zu betreiben. Nützlicher wäre es, dass die Leute in Kontextualisierungen erfahren, dass Martin Luther auch ganz üble judenfeindliche Schriften produziert hat – wie es zu seiner Zeit üblich war.
Die deutsche Regierung versichert zwar, dass sie Antisemitismus konsequent bekämpft. Mit den Grünen ist nun aber eine Partei in der Regierung, die diese Konsequenz manchmal vermissen lässt – etwa wenn Jürgen Trittin den antisemitischen Terroristen-Guru Dieter Kunzelmann als «grossen Sponti» würdigt. Oder wenn Claudia Roth den iranischen Botschafter mit einem High Five begrüsst – einen Vertreter eines Landes, das den Staat Israel vernichten will und judenfeindliche Propaganda verbreitet.
Claudia Roth hat vor ihrem Amtsantritt als Staatsministerin das Denkmal für die ermordeten Juden Europas und andere KZ-Gedenkstätten besucht. Sie hat damit ganz klar gezeigt, wo sie steht. Der Umgang mit Iran ist natürlich schwierig. Ich denke, wir müssen aussenpolitisch ganz deutlich machen, dass wir ein besonderes Verhältnis zu Israel haben und dass wir israelbezogenen Antisemitismus in jeder Form ablehnen.
Wo ist für Sie die Grenze zwischen Antizionismus und Antisemitismus?
Es gibt ja die Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA, Red.), die 2016 verabschiedet wurde und erfreulicherweise auch vom Deutschen Bundestag und vom Schweizer Bundesrat anerkannt wird. Sie ist meiner Ansicht nach ein gutes Hilfsmittel. Antizionismus ist dann antisemitisch, wenn die Existenz des Staates Israel infrage gestellt wird, wenn Juden für die Politik Israels verantwortlich gemacht werden oder wenn Israel dämonisiert wird, als Apartheidstaat oder faschistische Kolonialmacht. Da werden rote Linien überschritten, bei allen kritikwürdigen Dingen, die in Israel passieren. Deshalb würde ich auch die Boykottbewegung BDS als antisemitisch einstufen, weil sie genau diese Dämonisierung betreibt.
Die Definition der IHRA wird auch in Deutschland stark kritisiert. Ihnen persönlich wurde vorgeworfen, sie wollten den Diskurs abwürgen und Kritik an Israel generell unterbinden.
Also zunächst einmal ist der Diskurs über Israel sehr lebendig. Israel wird in den Medien fast jeden Tag heftig kritisiert, ohne dass jemand Antisemitismusvorwürfe erhebt, und das ist im Sinne der Meinungs- und Pressefreiheit auch richtig so. Zweitens ist die BDS-Bewegung nicht verboten, sie kann sich überall lautstark äussern. Aber die Frage ist doch: Ist es klug, wenn diese Bewegung, die zum Boykott einzelner israelischer Künstlerinnen und Wissenschafter aufruft und damit die Schwelle zum Antisemitismus eindeutig übertritt, auch noch von staatlichen Institutionen gefördert wird? Etwa, indem man Künstlergruppen einlädt, die BDS-Positionen vertreten, oder indem man öffentliche Räume für BDS-Veranstaltungen zur Verfügung stellt? Es kann doch nicht sein, dass Bürger – auch jüdische! – das mit ihren Steuern mitbezahlen müssen.
Ist Deutschland noch ein sicheres Land für die jüdische Bevölkerung?
Absolute Sicherheit gibt es nicht, das ist klar. Das zeigt die beängstigende Zahl antisemitischer Straftaten in Deutschland. Für 2021 haben wir die Zahlen noch nicht, aber 2020 gab es mehr als 2300 Fälle. Und natürlich ist es leider Realität, dass jüdische Einrichtungen geschützt werden müssen oder dass gerade Kippa tragende Menschen immer wieder angegriffen werden. Das ist schmerzlich, gerade vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte. Insgesamt würde ich aber sagen, dass Deutschland ein recht sicheres Land für Juden und Jüdinnen ist.
Manche Beobachter bezweifeln, dass es in Europa künftig noch jüdisches Leben geben wird. In Frankreich ist wegen antisemitischer Übergriffe seit Jahren eine Auswanderungsbewegung zu beobachten.
Allein die Tatsache, dass sich Juden überlegen, Europa aus Sicherheitsgründen zu verlassen, ist unerträglich. Deswegen müssen wir alles tun, um jüdisches Leben zu schützen. Jüdisches Leben ist ein integraler Bestandteil der europäischen Kultur. Europa wäre nicht denkbar ohne den Beitrag von jüdischen Menschen, von Erfindern, Mäzeninnen oder Ärzten. Das muss man den Leuten immer wieder bewusstmachen. Gleichzeitig gibt es ermutigende Beispiele. Es werden Synagogen gebaut oder restauriert, jüdische Gemeinden blühen auf, junge Juden und Jüdinnen mischen sich ein und erheben ihre Stimme. Das zeigt, dass sich Juden in europäischen Ländern zu Hause fühlen, dass sie Vertrauen haben. Aber es ist ein Vertrauen, das sich die Gesellschaften und die Regierungen jeden Tag neu erarbeiten müssen.