Felix Klein über Antisemitismus in der Musik: "Boykott ist der falsche Weg"

Typ: Interview , Datum: 26.04.2021

Felix Klein hat im Interview mit Till Knipper von der Neuen Zeitschrift für Musik über israelkritische Äußerungen und die Grenze zum Antisemitismus in der Kulturszene gesprochen, über das Wiedererstarken des Antisemitismus in Deutschland und über seinen eigenen Bezug zur Musik. Das Interview ist in Heft Nummer 1 des laufenden Jahres der Neuen Zeitschrift für Musik veröffentlicht worden.

Neue Zeitschrift für Musik

Knipper: Wie gut kennen die Menschen in Deutschland die Geschichte von Palästina und Israel?

Klein: Meine Erfahrung ist leider, dass die Menschen hierzulande viel zu wenig über Israel wissen, über die Umstände der Gründung, die Verquickung mit unserer deutschen Geschichte und die hiermit in Verbindung stehenden Ursachen des Nahostkonflikts. Ohne den Holocaust an europäischen Juden würde es ja aller Wahrscheinlichkeit nach den Staat Israel in seiner heutigen Form nicht geben – selbst wenn es schon vor 1933 den Zionismus gab, und den Wunsch vieler Juden im Nahen Osten eine eigene Heimstatt zu finden.

 Wenn Sie heute nach Israel reisen und Ihre eigenen Erfahrungen und Bekanntschaften mit dem Bild abgleichen, das in deutschen Medien vermittelt wird, passt das zusammen?

Ich empfehle jedem, der die Gelegenheit dazu hat, selbst mal nach Israel zu fahren. Bei Reisen ist es ja grundsätzlich so, dass man anders zurückkommt als man losgefahren ist. Aber im Fall von Israel gilt das in besonderem Maße, weil Bild und Wirklichkeit so weit auseinanderliegen. Medial kolportiert wird immer ein Problemstaat, der Nahostkonflikt und Spannungen im Nahen Osten. Vor Ort erlebt man aber ein kulturell reiches Land, eine lebendige Demokratie, eine innovative Start-up-Nation. Es ist daher auch politisch wichtig, dass wir gerade auf zwischenmenschlicher Ebene den Kontakt zwischen Israel und Deutschland verbessern. Aus diesem Grund setzt sich die aktuelle Bundesregierung auch für die Gründung eines deutsch-israelischen Jugendwerks ein.

Sie kommen aus Darmstadt und Ihr Vater war dort professioneller Orchestermusiker…

…das ist nicht ganz richtig. Mein Vater war zunächst professioneller Orchestergeiger in Hermannstadt, Siebenbürgen. Als er nach Deutschland kam, sattelte er um und arbeitete in Darmstadt als Mineraloge bei Merck. Ich wuchs daher in Darmstadt auf und spielte selbst Geige in einem Orchester und ging natürlich mit meinem Vater ins Konzert. Die in Haifa geborene Irith Gabriely war dort im Orchester des Staatstheaters Darmstadt die erste Klarinettistin und sorgte dafür, dass auch immer mal israelische Komponisten aufgeführt wurden. Sie organisierte auch Austauschprojekte mit einem Orchester in Haifa. 1986 war ich auch dabei und somit erstmals in Israel. Ich war damals überwältigt von dem kulturellen Reichtum, vom Interesse an klassischer westlicher Musik und ihre Einbettung in einen nah-östlichen Kulturbereich. Wir spielten in Haifa u.a. ein Stück von Paul Ben-Haim (1897–1984, geb. Paul Frankenburger), der von israelischer Seite ganz klar als israelischer Komponist wahrgenommen wird, der ja aber bis 1933 in Deutschland lebte und auch für mich ästhetisch viele Anknüpfungspunkte bot.

 Der israelische Musiker Yaron Deutsch fragte mich, in welchem Land ich am liebsten eine Haftstrafe verbüßen würde: In Israel oder in einem der angrenzenden Länder. Diese Frage reiche ich an Sie weiter: Was wäre Ihre Antwort?

Israel ist die einzige Demokratie in der Region und hat auch einen funktionierenden Justizapparat. Da werden auch ehemalige Staats- und Premierminister wie Ehud Ohmert oder Mosche Katzav angeklagt und zu einer Gefängnisstrafe verurteilt. Schaut man Nachbarländer an, etwa Syrien, dann ist die Lage doch eine ganz andere.

Heute studieren, arbeiten und leben viele Musikerinnen und Musiker aus Israel in Deutschland. Stimmt Sie das optimistisch?

Ja, ich glaube schon, dass die Musik Brücken bauen kann, die in anderen Bereichen so nicht möglich wären, gerade auch zwischen Israelis und Palästinensern. Daniel Barenboims in Berlin angesiedeltes West-Eastern Divan Orchestra ist ja ein ganz sichtbares Zeichen dafür, wie Musik Menschen zusammenführen kann. Ich sehe auch voller Freude Ensembles in Deutschland, in denen Israelis und Iraner zusammen Musik machen. Die deutschen Musikhochschulen üben international sicherlich eine große Anziehungskraft aus. Aber auch Israel hat auf musikalischer Ebene viele sehr gute Ausbildungsstätten. Leute wie Ben-Haim haben da gute Aufbauarbeit geleistet. Im Westjordanland ist das nicht so ausgeprägt. Deswegen ist es auch etwas Besonderes, wenn palästinensische Studenten die Eingangsprüfungen deutscher Musikhochschulen schaffen. Das ist sehr beachtlich, und auch diese Menschen sollten wir besonders fördern. 

Was beutet eigentlich «Antisemitismus»? Wo verläuft die Grenze?

Es gibt eine Antisemitismus-Definition, die auch von der Bundesregierung offiziell angenommen wurde. Sie beruht, vereinfacht gesagt, auf der Wahrnehmung von Menschen als Juden, nur weil sie Juden sind. D.h. es wird von den Charakter­eigenschaften einer Person, die man vor sich hat, auf ein Menschenkollektiv geschlossen, also auf Juden im Allgemeinen. Wenn dieser Mensch besonders schlau ist, dann wäre «antisemitisch» zu sagen: Alle Juden sind schlau. Das gilt auch umgekehrt, wenn also kollektive Eigenschaften auf eine Person projiziert werden. Wenn jüdische Menschen anders wahrgenommen werden als nicht-jüdische Individuen, dann ist für mich die Grenze zum Anti­semitismus erreicht, da sie dann stigmatisiert und ausgegrenzt werden. Es ist die Definition der International Holocaust Rememberance Alliance (IHRA). Antisemitismus ist eine gewisse Wahrnehmung von Juden, die sich im Hass gegen Juden ausdrücken kann. Diese Definition ist sehr offen, macht aber klar, dass diesen Menschen nur aufgrund ihrer Zugehörigkeit meist negative Eigenschaften zugeschrieben werden. Die Definition stellt auf die Wahrnehmung ab und nicht darauf, ob der wahrgenommene Mensch tatsächlich jüdisch ist. Sie macht damit klar, dass auch Nicht-Juden antisemitisch angefeindet werden können.  

Wenn ich mir Inhalte von Menschen aus der Musikszene bei Facebook anschaue, so erinnere ich mich nicht an einen einzigen empörten Post über Angriffe auf Israel beispielsweise durch die Hamas oder Hisbollah, aber israelische Angriffe auf Palästinenser oder andere Nachbarstaaten waren dort sehr oft Thema. Viele arbeiten sich anscheinend lieber oder deutlich häufiger an Israel ab als an den vielen anderen Missständen und Schurkenstaaten auf der Welt. Wieso ist der Beobachtungsfokus derart israelbezogen?

Das ist eine Frage, die ich mir auch immer wieder stelle. Das eine ist die Häufigkeit, das andere die Art der Berichterstattung. Oft werden beim Bewertungsmaßstab auch doppelte Standards angelegt an Israel im Vergleich zu anderen Staaten oder Demokratien. Die 3-D-Regel bietet hier ein gutes Kriterium für das Erkennen von als Kritik getarntem Antisemitismus. Der 3-D-Test meint drei Kriterien: doppelte Standards, Delegitimierung und Dämonisierung von Israel. Sehr klar ist die Lage, wenn dann Israel auch noch das Existenzrecht aberkannt wird. Mir fällt jedenfalls auch auf, dass in Deutschland oft Kritik an den Zuständen in Israel geäußert wird – und diese Kritik ist ja vollkommen in Ordnung –, diese Kritik aber viel häufiger geäußert wird als bei ähnlichen Situationen an anderen Orten. Es gibt ja etwa auch eine Besatzungsherrschaft von Marokko in der Westsahara oder die ungeklärten Verhältnisse auf Zypern. Es gibt viele solcher Beispiele, die aber keine so große Rolle in unseren Diskussionen spielen. Viele Menschen arbeiten sich mit ihrer Kritik an Israel ab.

Könnte ein empfundenes Tabu in Bezug auf Israel-Kritik so anziehend wirken? Gerade die Kunst und Musik sucht natürlich gerne Tabuzonen auf. Ist Kritik an der israelischen Regierung automatisch antisemitisch? Sollte es für Deutsche oder deutsche Institutionen ein Tabu sein, politische Entscheidungen Israels zu kritisieren – auch innerhalb der Kunst?

Natürlich ist Kritik an der israelischen Regierung absolut legitim, auch hier von Deutschland aus, wenn völkerrechtlich umstrittene Dinge passieren – man denke an den Grenzverlauf der Mauer oder die Siedlungspolitik. Das kann man kritisieren, keine Frage. Aber wenn der Gaza-Streifen beispielsweise als Konzentrationslager bezeichnet wird oder Israelis pauschal als Täter, israelische Soldaten als Mörder dargestellt werden, dann ist das antisemitisch und hat  in Deutschland, im Land der nationalsozialistischen Täter, eine klar schuldentlastende Wirkung. Das ist in Deutschland etwas anderes als in Ländern, die nicht den Holocaust ins Werk gesetzt haben. Hier wirkt eine solche Kritik automatisch schuldentlastend, besonders, wenn durch Vergleiche mit dem Holocaust die Taten Deutschlands relativiert werden. Daher sollte man hier besonders aufpassen.

Nach meiner persönlichen Erfahrung, aber auch gemäß Meinungsumfragen, nimmt Antisemitismus seit einigen Jahren wieder zu, leider auch in der Neuen Musik-Szene Deutschlands durch BDS-nahe Stimmen.

Ja, Antisemitismus ist sehr tief verwurzelt in unserer Kultur. Kritik an gesellschaftlich-politischen Umständen ist erlaubt und notwendig, aber Antisemitismus ist kein valabler Bestandteil des Diskurses um Werte in einer Demokratie. Wenn Sie linke BDS-Sympathisanten ansprechen, dann geht es ihnen nach meinem Verständnisgrundsätzlich schon um demokratische Werte und eine Vielfalt der Gesellschaft. Aber ihr Antisemitismus und ihre Aberkennung des Existenzrechts von Israel sind jenseits dessen, was man hier akzeptieren kann.

Was kann man in Deutschland tun, um auf eine Aussöhnung im Nahostkonflikt hinzuwirken? Aussöhnung wird wohl der einzige Weg zu einer friedlicheren Zukunft sein. Ein gewisser Ausgleich von Interessen und eine gegenseitige Wertschätzung sind da wohl Bedingungen. Boykott führt hingegen zu einer Verschärfung des Konflikts, oder?

Ja, genau. Boykott ist der falsche Weg. Wenn israelische Musiker nicht eingeladen werden sollen, weil sie dafür in Haft genommen werden für das, was die israelische Regierung macht, dann ist es der falsche Weg. Das Gegenteil ist nötig: Man sollte Kontakte herstellen. Gerade bei Musikern aus Israel stelle ich fest, dass sie sehr sensibel sind und auf Ausgleich bedacht;  viele haben Empathie  für  die Palästinenser und wollen konstruktive Ansätze bieten. Nun gerade diese Menschen zu boykottieren, nur weil sie Israelis sind, ist grundfalsch.

Wir hatten das Pop-Kultur Festival hier in Berlin 2019, wo neben anderen auch israelische Musiker auftreten sollten. Aus einem Fördertopf sollten diese  Musiker eine Reiseförderung von 500 Euro erhalten. Die BDS-Bewegung hat dann darauf hingewirkt, dass alle anderen Musiker, insbesondere aus arabischen Ländern, dieses Festival boykottieren sollten, nur wegen der israelischen Musiker, unterstützt von der israelischen Botschaft. Das ist aus meiner Sicht ein sehr intolerantes Verhalten. Gerade in der Musik sollte man doch Austausch fördern. Denn: Nur was und wen man genauer kennt, lernt man auch wertzuschätzen. Und ich stelle übrigens fest, dass Antisemitismus in Deutschland besonders dort ausgeprägt ist, wo wenige oder keine Juden sind. Das ist hier ähnlich dem Hass auf Muslime, der gerade dort ausgeprägt ist, wo fast keine Muslime leben. Ich kritisiere an der BDS-Bewegung auch, dass sie sich  nicht für eine Zweistaatenlösung einsetzt. Daran festzuhalten und sich dafür einzusetzen wäre allerdings der richtige und aus meiner Sicht auch einzige Weg.

Es gibt aber auch viele gut funktionierende Initiativen in Deutschland, die Kontakt und Austausch ermöglichen. Natürlich auch mit Musik. Ein paar Beispiele habe ich schon genannt, aber es gibt sie auch auf dem Feld der Religionen. Hier in Berlin entsteht jetzt bald das «House of One»: eine Synagoge, eine Moschee und eine Kirche unter einem Dach. Man muss einfach Begegnungen zwischen Menschen schaffen. Dabei hilft es auch manchmal, nichtgleich politische Fragen aufzuwerfen. Auch niederschwellige Initiativen können sehr viel bewirken. Dadurch offenbart sich, dass es vielmehr Nähe und Verbindung gibt, als vielleicht zunächst angenommen: die israelische und palästinensische Küche sind einander sehr ähnlich. Oder die Sprache. Hebräisch und Arabisch sind beides semitische Sprachen und haben viele ähnliche Wörter. 

Die israelische Kultur, aus dem Spiegel der Musik betrachtet, erscheint mir seit ihren Anfängen wie ein Melting Pot kultureller Einflüsse und Traditionen aus der ganzen Welt. Es zeigt sich, wie viele erstklassige und vielfältige Musikprojekte in Israel realisiert und international aufgeführt werden, wie sich heute jene Länder musikalisch, aber auch in Israels Kulturleben widerspiegeln. Auch meine Erfahrung ist, dass sich alle israelischen Musiker:innen, Komponist:innen und Festivalleiter:innen, mit denen ich im Rahmen meiner Recherchen sprach, sich kulturell offen und integrativ äußerten. Gerade durch Musikprojekte sehe ich daher besonders vielversprechende Möglichkeiten für den Austausch und den Aufbau von «role models», von Künstler:innen als gesellschaftliche Vorbilder für eine friedlichere Zukunft im Nahen Osten. Ich würde mich freuen, wenn gemeinsame Projekte noch mehr Förderung erhielten.

Ganz genau. Es braucht Musik – und Kulturboykott ist der ganz falsche Weg.