Felix Klein: "Es ist entsetzlich, wie in Deutschland gegen Juden gehetzt wird"
Interview 18.05.2021
Felix Klein sprach im Interview mit Michael Hanfeld und Thomas Thiel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung über den neuerlichen Ausbruch antisemitischer Gewalt in Deutschland im Zusammenhang mit der Eskalation der Spannungen im Nahen Osten, was die Bundesregierung zum Schutz von Jüdinnen und Juden unternimmt und über die Frage, ob Antisemitismus von rechts, von links und der muslimischen Ursprungs richtig benannt wird.Das Interview wurde in der F.A.Z. vom 17.05.2021, Feuilleton, auf Seite 9 veröffentlicht.
Frankfurter Allgemeine Zeitung
Herr Klein, aus dem Gazastreifen wird Israel mit Tausenden Raketen beschossen, in Deutschland werden Israel-Flaggen vor Synagogen verbrannt. Wie bewerten Sie diesen neuerlichen Ausbruch antisemitischer Gewalt?
Uns erreichen zurzeit erschreckende Bilder von Zerstörung und Leid aus dem Nahen Osten. Gleichzeitig sehen wir im viertausend Kilometer entfernten Deutschland, dass gewaltbereite Randalierer vor Synagogen ziehen, israelische Fahnen brennen und bei Protestmärschen in abstoßender Weise offen antisemitische Parolen skandiert werden. Es ist entsetzlich, wie offensichtlich hier Juden in Deutschland für Handlungen der israelischen Regierung verantwortlich gemacht werden, an denen sie ganz und gar unbeteiligt sind. Solidarität mit Palästinensern oder Kritik an der israelischen Regierung sind keine Rechtfertigung für Gewalt.
Was bedeuten die Ausschreitungen für die Sicherheit der jüdischen Bürger hierzulande?
Polizei und Justiz sind besser vorbereitet als noch vor einigen Jahren, um mit antisemitischen Straftaten umzugehen. Das Verbrennen von Staatsflaggen steht unter Strafe. Antisemitische Tatmotive können sich nun ausdrücklich strafverschärfend auswirken. Hier haben wir viel erreicht, um Menschen jüdischen Glaubens in Deutschland besser zu schützen. Es kommt nun darauf an, den Schutz jüdischer Einrichtungen während der angespannten Lage in Nahost hierzulande adäquat anzupassen. Zudem ist es wichtig, mutmaßliche antisemitische Straftäter schnell vor Gericht zu bringen.
Fehlt dem Kampf gegen Antisemitismus in unserem Land die Strategie, wie der Historiker Peter Longerich in dieser Zeitung kritisiert hat?
Herr Longerich hat wichtige Themen sehr zutreffend analysiert. Er hat das geringe öffentliche Echo auf den Bericht des Unabhängigen Expertenkreises Antisemitismus beklagt. Dem kann ich nur zustimmen. Das geringe öffentliche Interesse ist aber keinesfalls gleichbedeutend mit einem Mangel an Strategie, ganz im Gegenteil: Es sind in dem Bericht ganz klare Schritte vorgesehen, und seit ich 2018 berufen wurde, sind bereits vier der fünf zentralen Forderungen umgesetzt worden: Schaffung der Stelle eines Bundesbeauftragten, also meines Amtes, Gründung einer Bund-Länder-Kommission, Berufung eines Beratungskreises mit Experten aus der Wissenschaft, schrittweiser bundesweiter Aufbau einer Erfassung, Dokumentation und Veröffentlichung antisemitischer Vorfälle unterhalb der Strafbarkeitsschwelle sowie der Start einer langfristig angelegten Forschungsförderung zum Antisemitismus. Um die dauerhafte Förderung von zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich um Antisemitismus-Bekämpfung bemühen, müssen wir uns noch kümmern.
Die Zahl antisemitischer Straftaten steigt von Jahr zu Jahr. Müsste man da nicht schneller konkret werden?
Ich bin dabei, eine nationale Strategie im Kampf gegen Antisemitismus zu formulieren. Wir bereiten gerade eine Anhörung der Zivilgesellschaft vor. Es gibt drei Gründe, warum wir das erst jetzt auf den Weg bringen. Einer liegt in der Einrichtung des Kabinettsausschusses gegen Rassismus und Rechtsextremismus infolge des Anschlags von Hanau. In diesem Zusammenhang sind jüngst sehr viele Maßnahmen gegen den Rechtsextremismus verabschiedet worden. Es ist nun wichtig, dass dies Eingang in die Nationale Strategie gegen Antisemitismus findet. Es wäre nicht sinnvoll, parallele Strukturen zu schaffen. Der zweite Grund ist die Tatsache, dass derzeit eine Strategie auf europäischer Ebene vorbereitet wird, die mit unserer nationalen Strategie verzahnt werden sollte. Es ist wichtig, dass wir einen europäischen Standard dafür haben, wie Antisemitismus zu identifizieren und zu bestrafen ist, beispielsweise im Internet. Der letzte Grund ist politisch-strategischer Natur: Ich habe mich entschieden, die Zivilgesellschaft anzuhören und die Eckpunkte der Nationalen Strategie in dieser Legislaturperiode so weit vorzubereiten, dass sie in die Koalitionsvereinbarung der neuen Bundesregierung Eingang finden. Das ist besser, als mit heißer Nadel etwas zusammenzuschreiben.
Was fordern Sie von der nächsten Regierung?
Wir brauchen eine gute Mischung aus Maßnahmen im repressiven und präventiven Bereich. Es muss empfindliche und schnelle Folgen haben, wenn sich jemand antisemitisch betätigt. Die Staatsanwaltschaft und die Polizei müssen in die Lage versetzt werden, Antisemitismus schnell und besser zu erkennen und zu ahnden. Die Vorbereitungen dafür sind gut vorangekommen. Das Gesetzespaket gegen Hass und Hetze im Internet ist verabschiedet worden. Das Bundeskriminalamt schafft gerade Strukturen, um es umzusetzen. Wir müssen die bestehende Strafbarkeitslücke füllen.
Worin besteht die Lücke?
Bisher ist es beispielsweise nicht strafbar, dem Zentralrat der Juden Hetzzuschriften zuzusenden, in denen der Nationalsozialismus verherrlicht wird. Um den Tatbestand der Volksverhetzung zu erfüllen, fehlt das Tatbestandsmerkmal der allgemeinen Verbreitung. Diese Lücke wird gerade geschlossen. Andere Lücken wurden auf meine Anregung hin bereits geschlossen. Beispielsweise ist das Verbrennen von Flaggen inzwischen unter Strafe gestellt worden. Wir haben außerdem dafür gesorgt, dass antisemitische Motive bei Straftaten ausdrücklich strafverschärfend von den Gerichten berücksichtigt werden können. Es müssen nun Fortbildungsangebote für Staatsanwälte geschaffen werden, damit sie Antisemitismus besser erkennen. Der Angriff auf das jüdische Restaurant in Chemnitz durch Rechtsextremisten im August 2018 wurde beispielsweise wochenlang als bloße Sachbeschädigung verhandelt. Diese Defizite müssen wir abstellen.
Wenn Antisemitismus besser erkennbar werden soll, muss dann nicht auch die bekanntermaßen verzerrte Polizeistatistik zu antisemitischen Straftaten reformiert werden? Hier werden alle unklaren Fälle dem Rechtsextremismus zugeordnet. Das Ergebnis steht im Widerspruch zu wissenschaftlichen Studien und Erfahrungsberichten jüdischer Bürger, worauf auch der Unabhängige Expertenkreis hinweist. Wird damit die faktische Bedrohung durch islamischen oder arabischen Antisemitismus verharmlost?
Die Kritik an der Statistik des Bundeskriminalamts ist mir natürlich bekannt. Das BKA versichert, es habe im Nachhinein jede Straftat noch einmal manuell geprüft. Dabei habe sich das Ergebnis bestätigt.
Wie will man das wissen? Ein großer Teil der Straftaten bleibt unaufgeklärt. Bei der Überprüfung kann sich doch nur der Systemfehler fortsetzen.
Das BKA geht die aus den Ländern gemeldeten Fälle noch einmal durch und bestätigt oder korrigiert die Einordnung der lokalen Polizeistellen. In manchen Fällen ist der Hintergrund tatsächlich klar erkennbar. Friedhofsschändungen gehen beispielsweise so gut wie immer von Rechtsextremen aus. In anderen Fällen gibt es tatsächlich Einordnungsprobleme, etwa wenn der Hitlergruß bei islamistischen Demonstrationen wie dem Al-Quds-Marsch gezeigt wird. Ich höre von der jüdischen Gemeinschaft, dass die vom Bundesinnenminister vorgestellte Statistik nicht der persönlichen Erfahrung entspricht. Die Bedrohung, die von Islamisten ausgeht, wird dort viel höher eingeschätzt, als sie in der Statistik zum Ausdruck kommt. Wir haben deshalb auf meine Initiative hin einen Runden Tisch eingerichtet, an dem der Zentralrat der Juden mit der Abteilung für öffentliche Sicherheit, dem Bundeskriminalamt und dem Bundesamt für Verfassungsschutz zusammenkommt. Wir müssen die unterschiedlichen Wahrnehmungen abgleichen und Maßnahmen überlegen. Wichtig ist, dass wir nicht hierarchisieren, welche Form von Antisemitismus nun am gefährlichsten ist, sondern alle drei Quellen von Antisemitismus, die linke, die rechte und die religiöse, unvoreingenommen untersuchen. Dessen ungeachtet prüft das BKA aber auch fortlaufend, ob es Änderungsbedarf bei der Erfassung gibt.
Hat der Antisemitismus unter Muslimen eher politische oder religiöse Wurzeln?
Der islamistische Antisemitismus ist im Grunde nichts Neues. Es gibt ihn seit den dreißiger Jahren, als Adolf Hitler vom Großmufti von Jerusalem hofiert wurde. Es lässt sich eine Korrelation feststellen: Antisemitismus unter Muslimen nimmt zu, wenn es politische Spannungen in Nahost gibt, wie wir es jetzt gerade angesichts der Angriffe aus dem Gazastreifen auf Israel erleben. So sind antisemitische Angriffe beispielsweise nach der Gründung des Staates Israel und den arabisch-israelischen Kriegen stark angestiegen. Wichtig ist, dass wir bei der Prävention ansetzen und dass Zuwanderer aus diesen Gebieten verstehen, dass Antisemitismus in Deutschland nicht akzeptiert wird. Entsprechende Programme gibt es in der politischen Bildung, etwa Besuche von Konzentrationslagern, aber bereits auch in den Integrationskursen. Ein wichtiger Schlüssel im Kampf gegen Antisemitismus ist auch die Erinnerungskultur, die verdeutlicht, wohin ein ungehemmter Antisemitismus in diesem Land geführt hat. Diese Erinnerungskultur muss Brücken zu Zuwanderern und Menschen mit Migrationsgeschichte bauen und zeitgemäße Formen finden, die auch Jugendliche anspricht. Es reicht nicht, wenn Honoratioren einer Stadt zu Gedenktagen zusammentreten.
Die Erinnerungskultur ist auch ein Ritual zur Schuldabwehr. Der Soziologe Michael Bodemann hat dafür den Begriff des Gedächtnistheaters geprägt. Es gibt Stimmen, die ein moderneres Bild des Judentums fordern.
Wir müssen davon wegkommen, dass Juden beispielsweise in Schulbüchern vorrangig als Opfer dargestellt werden. Wir müssen das jüdische Leben auch als selbstverständlichen Teil der Öffentlichkeit zeigen, bei Straßenfesten, Ausstellungen, in jüdischen Restaurants.
Täuscht das nicht über die Wirklichkeit hinweg? Juden müssen heute fürchten, auf der Straße überfallen zu werden. Jüdische Familien ziehen ihre Kinder aus Schulen zurück, weil sie dort täglich schikaniert werden. Wir hatten den rechtsextremen Anschlag in Halle. Wie verhindern wir, dass es bei uns nicht so weit kommt wie in Frankreich, wo viele Juden die Hoffnung auf den Staat aufgegeben haben und nach Israel auswandern?
Auf der präventiven Seite müssen wir Lehrer vorbereiten, damit sie auf Antisemitismus reagieren und ihn ahnden können, beispielsweise wenn "Du Jude" als Schimpfwort verwendet wird. Wir müssen aber auch Begegnungsprogramme und Projekte deutlich erweitern, denn vieles ist gegenseitiger Unkenntnis geschuldet. Auf der repressiven Seite müssen wir auf Radikalisierung im Netz noch schneller reagieren. Die Pflicht für Plattformen, Hass und Hetze im Internet zu melden und zu löschen, tritt ja zum Glück demnächst in Kraft.
Was halten Sie von der in Politik und Wissenschaft zu beobachtenden Tendenz, Antisemitismus und Rassismus zusammenzufassen und beide als Kapitel der europäischen Kolonialgeschichte zu behandeln?
Das halte ich für grundfalsch. Antisemitismus ist keine Unterform von Rassismus, sondern eine eigenständige Form der Diskriminierung. Der Rassist wertet den anderen ab, um sich dadurch zu erhöhen; der Antisemit hat dagegen Angst vor einer angeblichen jüdischen Übermacht. Sicher gibt es zwischen Rassismus und Antisemitismus Gemeinsamkeiten wie die autoritäre Grundstruktur, die Unterschiede überwiegen aber. Wir brauchen unterschiedliche Instrumentarien.
Die Singularität des Holocausts wird durch die postkoloniale Kritik vermehrt infrage gestellt.
Als deutscher Antisemitismusbeauftragter muss ich zunächst darauf hinweisen, dass der Holocaust von Deutschland ausging und hier ins Werk gesetzt wurde. Das macht die Erinnerung an den Holocaust besonders wichtig. Aus postkolonialer Sicht kann Israel als letztes Kolonialprojekt des Westens erscheinen; aus der Sicht unserer Erinnerungskultur wird es dagegen als Rettungsanker für Menschen gesehen, die vor Verfolgung und Ermordung geflohen sind. Das sind natürlich kollidierende Sehweisen. Hier dürfen wir keinen neuen Historikerstreit unter umgekehrten Auspizien führen. Angesichts der Zuwanderung müssen wir Brücken zu Kulturen bauen, die einen anderen Hintergrund haben, sollten aber darauf achten, dass dies nicht zu einer Opferkonkurrenz oder einer Relativierung des Holocaust führt. Dieser hat durchaus Charakteristika, die sich bei keinem anderen Völkermord finden lassen, wie die Systematik und der pure Rassenwahn, mit denen er betrieben wurde.
Die subtile Form des Antisemitismus ist die Kritik an Israel. Nach der breit anerkannten IHRA-Definition gilt es als antisemitisch, wenn Israel dämonisiert, mit Doppelstandards gemessen oder sein Existenzrecht bestritten wird. Kritiker dieser Definition befürchten, dass damit jeder Kritik an der israelischen Regierung der Boden entzogen wird. Die Forderungen gehen hier sehr weit. Es wird beispielsweise gefordert, dass man Israel mit einem Apartheidsstaat vergleichen darf. Wo liegt die Grenze zwischen Kritik an der israelischen Regierung und Judenhass?
Kritik an der israelischen Regierung ist legitim und wird auch jeden Tag betrieben, ohne dass es zu Antisemitismus-Vorwürfen führt. Sie endet dort, wo das Existenzrecht Israels bestritten wird. Israel als Apartheidsstaat zu bezeichnen geht schon aus dem Grund fehl, weil es sich im Unterschied zum damaligen Südafrika um eine Demokratie handelt. Die IHRA-Definition genießt breite Zustimmung in der Politik, aber auch bei Vereinen und Unternehmen. Vierunddreißig Staaten haben sie übernommen. Ich sehe keinen Anlass, von dieser Definition abzurücken.
Eine Reihe von Wissenschaftlern und Intellektuellen fordert, Anti-Zionismus nicht als antisemitisch zu bewerten. Man dürfe Israels Existenzrecht bestreiten, weil die Staatsgründung ein Landraub an den Palästinensern gewesen sei.
Die Gründung des Staates Israel erfolgte bekanntlich unter besonderen Umständen und ist von dem dafür vorgesehenen Gremium, den Vereinten Nationen, unter Beachtung aller Regeln befürwortet worden. Das ist zu akzeptieren. Das Existenzrecht Israels infrage zu stellen, halte ich eindeutig für antisemitisch.