Felix Klein: "Wir dachten in Deutschland zu lang, wir sind immun gegen Antisemitismus"

Typ: Interview , Datum: 24.10.2021

Felix Klein sprach im Interview mit  Alexandra Eisen, Nele Leubner und Christian Matz vom Medienunternehmen VRM über verschobene rote Linien, Attacken beim Fußball und seine Erwartungen an eine neue Bundesregierung.

VRM

Herr Klein, der Musiker Gil Ofarim wirft Mitarbeitern in einem Leipziger Hotel Antisemitismus vor. Inzwischen gibt es Zweifel an seiner Darstellung. Hat er dem Kampf gegen Antisemitismus einen Bärendienst erwiesen?

Grundsätzlich ist es gut, dass er diesen Fall öffentlich gemacht hat. Aber es gibt in der Tat Zweifel. Jetzt muss man den Rechtsstaat wirken lassen. Das Erschreckende ist, dass es in Deutschland eine Atmosphäre gibt, in der man das zu jeder Zeit für möglich hält. Darin liegt die besondere Brisanz in diesem Fall.

 Das Hotel wollte Solidarität mit Ofarim zeigen und hat dazu eine Israel-Fahne ausgerollt. Liegt darin nicht das noch tiefergehende Problem?

Ja, deshalb dürfen wir auch nicht nachlassen in unserer Aufklärungsarbeit. Auch wenn das Hotel es sicher gut gemeint hat: Die Verwechslung von Juden mit Israelis ist höchst problematisch. Juden haben unsere Kultur mitgeprägt und sind ein integraler Bestandteil der deutschen Gesellschaft.

Zwischen Antisemitismus und zulässiger Kritik am Staat Israel liegt ein schmaler Grat. Wie geht man mit diesem Dilemma um?

Es gibt vielerlei Anlass, Israel zu kritisieren. Für mich ist die Grenze erreicht, wenn das Land dämonisiert wird, wenn sein Existenzrecht in Frage gestellt wird, und wenn es delegitimiert wird: Israel ist kein Apartheidsstaat, sondern eine Demokratie. Und, gerade bei uns hochproblematisch: Wenn der Umgang der Israelis mit den Palästinensern gleichgesetzt wird mit dem Handeln der Nationalsozialisten.

Ein weiterer Fall: Am Rande des Fußballspiels von Union Berlin gegen Maccabi Haifa im Olympiastadion wurden israelische Fans übelst beschimpft.

Wenn gerade im Olympiastadion nach einem Tor „Sieg Heil“ gerufen wird, ist das nicht hinnehmbar. Aber das ist ein strukturelles Problem. Die jüdischen Sportvereine berichten regelmäßig von Attacken vor allem im Fußball, aus anderen Sportarten kenne ich das in dieser Häufung nicht. Es ist daher wichtig und gut, dass der Verein Union Berlin sich klar distanziert hat und die Suche nach den Tätern aktiv unterstützt.

 Tun die Vereine genug dagegen?

Ich freue mich, dass es inzwischen eine große Sensibilisierung gibt beim DFB und  vielen Bundesligavereinen, ich stehe hierzu in engem und gutem Austausch mit dem DFB Aber da muss in vielen Vereinen noch mehr passieren, wie bei allen Aktivitäten gegen rassistische Gewalt. Es gibt ja auch viele dunkelhäutige Spieler, die rassistisch beleidigt werden.

 Nehmen die Attacken auf Juden insgesamt zu, oder werden nur mehr Fälle bekannt?

Beides. Was früher nur gedacht wurde, wird jetzt offen geäußert, vor allem im Internet. Aber es wird auch mehr angezeigt. Dazu ermuntere ich auch Opfer und Zeugen.

Auch im Rahmen der Proteste gegen die Coronamaßnahmen ist Antisemitismus offen zutage getreten, wenn sich zum Beispiel Impfgegner einen „Judenstern“ anheften.

Mir macht große Sorgen, dass Antisemitismus inzwischen anschlussfähig ist bis in die Mitte der Gesellschaft hinein. Gerade bei den Coronademos laufen normale Bürger neben Impfgegnern, Esoterikern, Reichsbürgern, Rechtsextremen, aber auch Linken. Antisemitismus, der Verschwörungsglaube ist da eine Art klebriger Kitt. Ich bin froh, dass der Verfassungsschutz das inzwischen sehr ernst nimmt.

 Reden wir genug über den Antisemitismus von zugewanderten Muslimen?

Wir müssen jede Form von Antisemitismus bekämpfen und dürfen keine Hierarchisierung vornehmen, welches nun die gefährlichste Form ist, der von rechts, von links oder von Muslimen. Antisemitismus von Muslimen ist auch eine Integrationsaufgabe. Mich schockiert, dass sich auch junge, Muslime die in der zweiten, dritten Generation hier sind und zum Teil deutsche Pässe haben, radikalisieren.

 Antisemitismus von Muslimen gibt es auch und gerade auf Schulhöfen.

Die Schulen sind ein ganz wichtiger Schlüssel. Zu meiner Schulzeit in Darmstadt gab es das Schimpfwort „Du Jude“ nicht. Das ist jetzt anders. Wir müssen zunächst einmal die Lehrerinnen und Lehrer in die Lage versetzen, damit adäquat umzugehen. Wichtig ist eine generelle Meldepflicht für antisemitische Vorfälle in den Schulen. Wir müssen auch die Darstellung von Juden im Unterricht verändern, um deutlich zu machen, wie viel sie zu unserer Kultur beigetragen haben.

 Die Diskussion um „Pflichtbesuche“ von Schulklassen in KZ-Gedenkstätten ist abgeebbt. Ein Fehler?

Ja. Ich würde mir diese Diskussion sehr wünschen, weil man sich dann darüber Gedanken machen muss, wie man jüngere Menschen an dieses Thema heranführt. Jede Schulklasse, die nach Auschwitz oder Dachau fahren will, muss dafür finanziell unterstützt werden, auch da gibt es manchmal Widerstände. Erinnerungskultur ist eine ganz wichtige Maßnahme im Kampf gegen Antisemitismus. Dies wird auch ein großes Thema in der nächsten Legislaturperiode.

Warum?

Bis 2025 stehen sehr wichtige Gedenktage an: 80 Jahre Wannseekonferenz, 80 Jahre D-Day, 80 Jahre Befreiung von Auschwitz, 80 Jahre Kriegsende. Das werden die letzten runden Gedenktage sein, bei denen Überlebende dabei sein werden.

Was erwarten Sie von der neuen Regierung?

Das Thema Erinnerungskultur taucht im Sondierungspapier der drei Parteien nicht auf. Ich halte es aber für außerordentlich wichtig, dass dafür im Koalitionsvertrag ein Kapitel eingefügt wird. Hier muss die neue Regierung einen Schwerpunkt setzen. Denn es ist ganz wichtig für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft, wie wir die Erinnerungskultur weiterentwickeln. Auch weil wir ein Einwanderungsland geworden sind. Die Leute müssen die Geschichte unseres Landes kennen, egal woher sie kommen. Auch Gedenkstättenfahrten für alle Schüler, auch für die zugewanderten, sind hier ganz wichtig.

Was fordern Sie konkret?

Die Gedenkstätten müssen genügend finanzielle Mittel bekommen. Wenn es keine Überlebenden mehr gibt, werden sie die letzten authentischen Orte der Geschichte sein.

Nehmen die Sicherheitsbehörden das Problem Antisemitismus nicht ernst genug?

Auch hier hat ein Umdenken stattgefunden, inzwischen wird Antisemitismus in vielen Polizeischulen schon in der Ausbildung behandelt. Ich bin auch sehr froh, dass es bei vielen Staatsanwaltschaften Antisemitismusbeauftragte gibt. Eine meiner Forderungen für die nächste Legislaturperiode ist aber, dass wir das bundesweit haben.

 Bezeichnend, dass es Ihr Amt erst seit 2018 gibt?

Besser spät als nie. Wir haben in Deutschland zu lange gedacht, dass wir vor dem Hintergrund unserer Geschichte immun sind gegen Antisemitismus.

Was haben Sie noch vor?

Weiter laut und unangenehm zu sein, wenn rote Linien des Sagbaren verschoben werden. Das „Wehrhafte-Demokratie-Gesetz“ mit anzuschieben. Dass das Maßnahmenpaket zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Hasskriminalität jetzt auch umgesetzt wird. Ein gutes Gesetz ist das gegen Hass und Hetze im Internet – aber das müsste auch auf Messengerdienste wie Telegram erweitert werden. Und es sollte endlich ein deutsch-israelisches Jugendwerk geben.

 Auch da stellt sich die Frage, warum es das nicht schon längst gibt.

Ja, das ist unerklärlich. Wir haben ja bei den Beziehungen zu Frankreich und Polen gesehen, was das bringt.  

 Ihr größtes Ziel ist aber, sich selbst überflüssig zu machen?

Zumindest was den Kampf gegen Antisemitismus angeht: Ja. Beauftragter für jüdisches Leben würde ich schon gerne bleiben.